Ulrike und Gerhard Nemec, Veitsbronn
Da stockt einem doch der Atem: In nächster Zeit sollen sich an die 15.000 (i.W. fünfzehntausend!) Menschen an einem Marsch zum Ölberg in Jerusalem beteiligen. Dieser Marsch soll ausgerechnet von einer Stadt im Palästinensergebiet ausgehen. Und zwar von Beit Jala aus, zwei Kilometer von Bethlehem entfernt. Nur: dazwischen verläuft die Grenze, die durch die meterhohe Mauer fast undurchdringlich geworden ist! Moslems, Juden und Christen, Palästinenser und Israelis, aber auch viele Teilnehmer aus anderen Ländern, sollten sich gemeinsam auf den Weg machen und für ein friedliches Miteinander demonstrieren und beten. Ist das nicht eine Utopie?
Über dieses Vorhaben berichtete Pfarrer Jadallah Shihadeh, von dem wir in seinem Gemeindezentrum empfangen wurden. Wir, das waren 21 Geschwister und Freunde der Kreuzbruderschaft, die Anfang Mai dieses Jahres eine Reise ins Heilige Land unternommen hatten. Wir hatten etwa zehn Begegnungen mit Menschen aus Gemeinschaften, denen man den Wunsch nach Versöhnung und Brückenbauen zwischen den verschiedenen „Fronten“ förmlich abspürte.
So eben auch das Treffen mit Pfarrer Shihadeh von der Evang.-Luth. Reformationsgemeinde in Beit Jala, die 2008 ihr 125-jähriges Jubiläum feiern konnte; unter den Gästen seien damals auch zahlreiche Juden und Moslems gewesen, und es sei vor allem um Frieden und den Zerfall der Mauer gebetet worden nach dem biblischen Motto: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen“ (Sach 4,6).
Mit sichtlichem Stolz berichtete er uns von den Einrichtungen und Angeboten der Kirchengemeinde: etwa einem Internat für Jungen aus schwierigen familiären Verhältnissen, einer Sozialstation, die sich um Arbeitsbeschaffung und Krankenpflege kümmert, einem Gästehaus und einer Jugendbegegnungsstätte. Wir hörten von Freizeiten und Ausflügen, von Spiel- und Sportprogrammen, Sprachkursen, von Angeboten für musikalische Ausbildung, u.a.m. Und natürlich, als geistlicher Grundlage, von Gottesdiensten und intensivem Bibelstudium. Im Jahre 2003 entstand die „Abrahamsherberge“ als ein Ort, an dem sich Menschen unterschiedlichster Prägung ohne Angst treffen können. Sie versteht sich als „Ort der Begegnung zwischen den Kindern Abrahams“ (Juden, Christen und Moslems), als Mittel zur Versöhnung und Völkerverständigung. „In dem Glauben, dass wir, wenn wir einen anderen beherbergen, Gott beherbergen, soll das Haus offen stehen für alle Kinder Abrahams.“
Der große Friedensmarsch zum Ölberg wird in den nächsten Jahren stattfinden, war Pastor Shihadeh zuversichtlich. Aber schon in diesem Jahr, und zwar vom 6. bis 10. Juli, fand im Rahmen einer sorgfältig geplanten Friedenswoche ein Marsch zum Sperrwall statt, wo immerhin über hundert Christen und Muslime aus Beit Jala und etwa 50 junge friedensbewegte Juden von israelischer Seite sich am Grenzzaun trafen, und zwar an einer Stelle, an der die Mauer noch nicht geschlossen ist. Diese Bewegungen wurden von der israelischen Polizei wachsam beobachtet, über Funk wurde Verstärkung angefordert, aber – es blieb alles friedlich! Über eine Stunde redeten Christen, Juden und Moslems miteinander und tauschten (durch das Zaungitter hindurch!) Kerzen, Blumen und Brot aus. Dies berichtete uns Christian Ulandowski von der Jesusbruderschaft Gnadental, der Augenzeuge dieser bewegenden Stunde war, per E-Mail, und fügte einige Fotos bei. Aus seiner unmittelbaren Betroffenheit schreibt er: „Es gibt anrührende Szenen, es ist ein besonderes Erleben, das kurze Aufflackern der Realisierung einer Vision. Ein Erleben, das ermutigt, gegen alle Widerstände und schlechten Erfahrungen die Hoffnung nicht aufzugeben. Verständigung und gegenseitige Achtung, Annahme und Versöhnung sind möglich. Wenn schon nicht auf der großen Bühne, dann doch da, wo man sich um Gerechtigkeit und Wahrheit bemüht.“ Hier ging etwas von dem Anliegen von Jadallah Shihadeh in Erfüllung: „Israel und Palästina sollen sich begegnen.“ Und: „Der Segen Palästinas hängt vom Segen Israels ab.“
Was ist die treibende Kraft hinter diesen Aktivitäten? Es ist wohl das Wissen um die Zusammengehörigkeit von Menschen verschiedener Herkunft und Prägung, die alle von Gott geschaffen und geliebt sind. Dahinter steht eine tiefe Sehnsucht, trotz aller Unterschiede im Frieden miteinander zu leben. Wenn sich Juden, Araber und Christen alle als Kinder Abrahams verstehen, sind sie untereinander Geschwister – und sollen das „um Gottes willen“ auch leben. Ob diese Vision, miteinander die Mauer zu überwinden und zu Tausenden zum Ölberg nach Jerusalem zu ziehen, auf dieser Grundlage nicht ihren utopischen Charakter verliert?
Infos über das Projekt: www.abrahams-herberge.com