Wir Menschen sind in unserer Zeit unterwegs zu einem Ziel. Das war früher so und wird nach uns so sein. Entsprechen unsere Ziele dem Ziel Gottes? Immerhin hat Gott uns Menschen die Freiheit geschenkt, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Es gehört zu den göttlichen Geheimnissen, wie Gott dennoch mit seinem Volk Israel und der Menschheit zu seinem guten Ziel kommt. Durch überraschende Interventionen grundsätzlicher Art hat er in das Zeitgeschehen eingegriffen, um es zum Ziel zu führen. Von solcher Zeitenwende ist hier die Rede.

Was ist Zeit? Augustinus hat die Frage diskutiert und festgestellt: „Bevor du mich fragtest, wusste ich es genau. Aber jetzt, wo du mich fragst, weiß ich es nicht.“ Was ist Zeit? Sie ist mehr, als das gleichmäßige Messen der Veränderungen, des Werdens und Vergehens, das wir in Jahre, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden unterteilen. 

In der Bibel gibt es qualifizierte Zeit, inhaltlich bestimmte Zeit. „Alles hat seine Zeit“, wie schon der Prediger wusste (Pred 3,1). Und es gibt erfüllte Zeit. Paulus schreibt in Gal 4,4: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, von einer Frau geboren und unter das Gesetz getan.“ Das Wort „erfüllt“ lässt an einen Behälter denken, der langsam, aber stetig vollläuft bis zum Rand. Und dann? Die Zeit der Geschichte Israels ist anscheinend ein solches Gefäß, ein Gefäß voller Verheißungen und Zusagen Gottes, inmitten all des Auf und Ab, das Israel erlebt; eine Zeit der Hoffnung und der Sehnsucht, des Sehnens nach der ungetrübten Bundesgemeinschaft mit Gott. Und wenn diese Zeit „voll“ ist, dann heißt das mit unseren Worten gesagt: „Jetzt ist es so weit!“ Jetzt kommt’s, es geht los!

Zeitenwende – sie wird eingeleitet durch das Kommen Jesu als Mensch auf diese Erde zu seinem Volk Israel.

Es beginnt ein neuer Abschnitt, es kommt die Zeit der Erfüllung, der Einlösung von Verheißungen, eine Zeit der Bundesherrschaft Gottes. Zeitenwende. Und sie wird eingeleitet durch das Kommen Jesu als Mensch auf diese Erde zu seinem Volk Israel. Und das sind seine Worte: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Nun kommt also etwas Neues, das aber nicht einen Bruch mit dem Bisherigen bedeutet, sondern seine Fortsetzung, seine Weiterführung, seine Erfüllung ist. In seiner Rede über Johannes den Täufer reflektiert Jesus diese Tatsache: „Wahrlich, ich sage euch: Unter allen, die von einer Frau geboren sind, ist keiner größer als Johannes der Täufer; der aber der Kleinste ist im Himmelreich, ist größer als er … Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis hin zu Johannes“ (Mt 11,11.13). Damit deutet Jesus an, dass das Alte, die Propheten und sogar die Tora, Gültigkeit hatten bis auf Johannes. Aber die Wende der Zeit hat Größeres gebracht: das Reich Gottes. „Dieser ist’s, von dem geschrieben steht: ‚Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll‘ … und wenn ihr’s annehmen wollt: Er ist Elia, der kommen soll“ (Mt 11,10.14). 

Am Ende des Buches Maleachi, das Jesus hier zitiert, wird das Kommen des Elia verheißen, bevor der große und schreckliche Gerichtstag Gottes kommt. Auch das ist die Andeutung einer Zeitenwende, und diese hat Johannes der Täufer selbst auch so erwartet. Deshalb lässt er Jesus ja auch fragen: „Bist du es, der da kommen soll?“ (Mt 11,3) Es irritiert ihn, dass Jesus nicht das große Gerichtsfeuer auslöst. Jesus antwortet mit der Anspielung auf ein Jesaja-Zitat: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt“ (Mt 11,5; vgl. Jes 61,1). Aber er lässt bewusst einen Satz des Jesaja aus: „Einen Tag der Vergeltung unseres Gottes [zu verkündigen]“ (Jes 61,2). Er beschränkt seine Sendung auf „ein gnädiges Jahr des Herrn“ (ebd.).

Die sichtbare Zusammenfassung aller Dinge im Himmel und auf Erden steht noch aus, wenn sie auch in der Auferstehung Christi grundgelegt ist.

Die ganz große Zeitenwende steht also noch aus, wie es der Epheserbrief andeutet: „Denn Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens … um ihn auszuführen, wenn die Zeit erfüllt wäre, dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist“ (Eph 1,9–10). Hier geht es wieder um „erfüllte Zeit“, aber die sichtbare Zusammenfassung aller Dinge im Himmel und auf Erden steht noch aus, wenn sie auch in der Auferstehung Christi grundgelegt ist.

Und doch war das Kommen Jesu eine Wende und hat eine ganz neue Zeit gebracht. Wir haben oben gesehen, dass Jesus sogar der Tora eine begrenzte Gültigkeit zusprach, obwohl er anderswo sagt, dass kein Jota vom Gesetz vergehen wird, solange Himmel und Erde bestehen (Mt 5,18). Und damit sind wir wieder bei der Zeit der Geschichte Israels, die sich erfüllt hat. Die Tora war ja die Bundesurkunde Israels, nach dem Tempel das Zentrum, um das sich das ganze Leben des Volkes drehte – vielleicht sogar noch vor dem Tempel, denn als dieser zerstört war, (über)lebte das Volk aufgrund seiner Gesetzestreue. 

Paulus reflektiert die Rolle der Tora und wie diese sich durch das Kommen Jesu verändert hat. Im Galaterbrief spricht er als Jude die Galater als Christen aus den Völkern an und macht ihnen klar, dass sie zu ihrem Heil nicht der Beschneidung bedürfen. Dabei ist die Beobachtung hilfreich, dass Paulus häufig zwischen ihr und wirwechselt. Mit wir meint er sich und die Gläubigen aus den Juden bzw. alle Juden überhaupt. Mit ihr bezeichnet er die Galater, die Gläubigen aus den Heiden. „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus“ (Gal 3,26). „Ehe aber der Glaube kam, waren wir (d.h. die Juden) unter dem Gesetz verwahrt und verschlossen auf den Glauben hin, der dann (Zeitenwende!) offenbart werden sollte. So ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christus hin …“ (Gal 3,23–24). 

„Zuchtmeister“ schreibt Luther; das griechische Wort wird besser übersetzt mit „Erzieher“. Ziel der Erziehung: „auf Christus hin“. Die Tora zielte also von Anfang an auf Christus, auf den Messias. Und sie „verwahrte“ die Israeliten bis zu seinem Kommen. Jetzt ist es da. Die Zeit ist erfüllt. Um im Bild der Pädagogik zu bleiben: Die Reife ist erreicht, der Schulabgang ist angesagt.

Damit gewinnt die Tora für die Jesus-gläubigen Juden eine andere Funktion. Sie wird nicht abgeschafft. Christus ist nicht „das Ende des Gesetzes“ (Röm 10,4 im Luthertext), sondern er ist Ziel und Erfüllung der Tora. Erfüllt ist sie in Jesus und im Doppelgebot der Liebe, wie es Jesus gelehrt hat (u.a. in Lk 10,27–28), und auch Paulus in Röm 13,10 ausdrücklich sagt. 

Es ist damit aber auch eine andere Zeitenwende eingeleitet: Dass auch die Heiden – im konkreten Beispiel oben die Galater – durch den Glauben an den Messias Jesus in die Gemeinschaft mit Gott eingeladen sind. Nicht in den Sinai-Bund sind sie aufgenommen, sonst müssten sie die Tora halten, sondern in den Abrahams-Bund, dem die Verheißung gegeben worden war: „In dir sollen gesegnet sein alle Geschlechter auf Erden“ (1 Mose 12,4). Mithin bedeutet das Kommen Jesu nicht nur eine Zeitenwende für Israel, sondern eine für die ganze Welt. Darüber können wir Gott nur loben und danken.

Mithin bedeutet das Kommen Jesu nicht nur eine Zeitenwende für Israel, sondern eine für die ganze Welt.


Autor

Bruder Franziskus Joest

Jesus-Bruderschaft Gnadenthal, Hünfelden

  • Jesus-Bruderschaft Gnadenthal

    Die Jesus-Bruderschaft Gnadenthal ist eine kommunitäre Lebensgemeinschaft von zölibatär lebenden Frauen und Männern und von Familien.

    Weitere Information…