Sind wir gesegnet, wenn es uns gut geht, wenn wir alles haben, was wir brauchen oder gar uns wünschen? Ohne Zweifel kann das sein – aber nicht nur dann. Die Fülle oder Qualität des Segens Gottes lässt sich nicht in erster Linie an den äußeren Gegebenheiten messen. Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen zeigen die folgenden Ausführungen Haltungen auf, die uns Jesus in den Seligpreisungen vor Augen malt und die voller Verheißungen sind.
In Deutschland haben wir uns daran gewöhnt, dass die Wirtschaft jedes Jahr wächst und die Löhne wenigstens in Sichtweite dieser Entwicklung bleiben. Der Konsum in Sachen Urlaub, Freizeit sowie Erlebniskultur kennt nur wenige Grenzen. Der jüngste Hammerschlag, der diese Entwicklung empfindlich getroffen hat, war die Covid-19-Pandemie. Wir alle haben festgestellt, was mit unserem inneren Menschen passiert, wenn zudem die normalen Dinge wie Shopping, Konzertbesuche oder das unbeschwerte Treffen mit Freunden plötzlich abgesagt werden müssen. Viele potentielle, innere Probleme haben sich in kurzer Zeit so massiv verstärkt, dass die seelsorgerliche Not mit Händen zu greifen war. Jedenfalls ist das meine persönliche Beobachtung im Schniewind-Haus gewesen, wo die Seelsorge zu unseren Hauptaufgaben gehört. Inzwischen tobt ein heißer Krieg in der Ukraine, so dass in Deutschland die Energiepreise durch die Decke marschieren.
Was will Gott uns durch diese Verhältnisse sagen?
An diesem Punkt ist es wichtig, einmal innezuhalten und sich zu fragen: Was passiert da gerade mit uns? Es macht doch keinen Sinn, auf die Verhältnisse oder die politisch Verantwortlichen zu schimpfen. Dadurch wird nichts besser. Die viel wichtigere Frage lautet: Was will Gott uns durch diese Verhältnisse sagen? Haben wir uns in den Annehmlichkeiten dieses Lebens so selbstverständlich eingerichtet, dass die innere Belastungsfähigkeit sowie die Bereitschaft zum Verzicht darunter gelitten haben? Ist das Ziel unseres Betens und Glaubens ein weitgehend störungsfreies Leben oder suchen wir die bleibende Frucht im Sinne des Evangeliums? Schließlich gilt im Reich Gottes der Grundsatz: Nur wer verzichtet, erlangt die Fülle. Oder wie Jesus es ausgedrückt hat: „Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden“ (Mt 10,39).
Auf diesem Hintergrund lese ich den Abschnitt in Mt 5,1-12 mit ganz neuen Augen. Er enthält neun Seligpreisungen Jesu, die man als seine „Regierungserklärung“ bezeichnen kann. Damit möchte er nämlich sagen, in welche Richtung sich die Lebensverhältnisse für diejenigen entwickeln werden, die sich durch eine Glaubensentscheidung an ihn und das Evangelium gebunden haben. Wer sich mit ganzer Person unter die Herrschaft Jesu stellt, erfährt in diesem Abschnitt, was ihn in der Gegenwart Gottes erwartet.
1. Einsatzpunkt: Begrenzungen werden sichtbar
Eine erste Beobachtung sticht sofort ins Auge: Hier werden neun schmerzliche Begrenzungen aufgezeigt, unter denen viele Menschen bis heute in massiver Weise leiden: Wer „geistlich arm“ ist, sieht in vielen Baustellen seines Lebens keinen Ausweg mehr und fragt deshalb neu nach Gott. Wer „Leid trägt“ begegnet der Ohnmacht des Lebens, Verluste nicht verhindern zu können. Die Sanftmütigen werden häufig übergangen und übersehen. Die mit Ungerechtigkeit Behandelten sehnen sich wie die bittende Witwe in Lk 18,1ff nach einer Rehabilitierung ihres Lebens. Die Barmherzigen und die Aufrichtigen (= die reinen Herzens sind) werden häufig ausgenutzt. Die Friedfertigen werden durch Gewaltanwendung überwältigt, während diejenigen, die um ihr Leben fürchten müssen, sowieso in einer misslichen Lage sind. Bis heute sind Christen im Weltmaßstab gesehen die am meisten verfolgte Gruppe. Zum Schluss wird dann noch die böse Nachrede (Mobbing) erwähnt, die niemand verhindern kann. Diese Erfahrung führt häufig zum Verlust der Karriere oder auch zu großen inneren Verletzungen.
Jesus will uns mit dieser umfangreichen Aufzählung zunächst sagen, dass wir alle in solchen Lebenslagen festhängen und sie aus eigener Macht nicht abstreifen können. Dieser Text lädt uns daher dazu ein, ganz ehrlich vor Gott zu werden. Wir gewinnen im Leben nichts, wenn wir solche Schmerzpunkte verschämt wegdrücken oder gar leugnen. Besser ist es, sie zu Christus zu bringen, damit er an ihnen handeln kann. Dieser gesunde Realismus ist ein wichtiger Ausgangspunkt für den Glauben. Unser Leben gewinnt immer dann an inhaltlicher Substanz, wenn wir die faktischen Grenzen unseres Lebens anerkennen, die neben der persönlichen Ebene auch wirtschaftliche und ökologische Aspekte mit einschließen. Es gibt kein grenzenloses Wirtschaftswachstum und keine unerschöpflichen natürlichen Ressourcen. Von daher ist Verzicht der Weg zur Nachhaltigkeit. Sünde kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Neben der Verschmutzung des Herzens (Mt 15,19) sowie dem erlittenen Unrecht im persönlichen Rahmen stöhnt auch die Schöpfung und ruft nach Erlösung (Röm 8,22).
2. Spannungspunkt: Gnade wird erfahrbar
Was als Nächstes folgt, ist einfach atemberaubend: Jede Seligpreisung beschreibt einen Ausweg als Grund für die verheißene Freude. Jesus bewirkt nämlich eine radikale Wende inmitten der Ohnmacht und den Schmerzpunkten unseres Lebens. Den geistlich Armen gehört das Himmelreich, wird gleich am Anfang verkündet: Damit ist sowohl die zukünftige Herrlichkeit als auch die gegenwärtige Hilfe gemeint, wie Jesus sie in Mt 11,28 zum Ausdruck gebracht hat: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ Den Leidtragenden wird zugesprochen, dass der Vater im Himmel ein „Gott allen Trostes“ ist (2 Kor 1,3), der unseren inneren Menschen in jeder Lage aufrichten und stärken kann. Die Sanftmütigen empfangen die Vollmacht, Herzen für das Evangelium zu gewinnen, so wie die Unrecht leidenden Menschen den Zuspruch der Rehabilitierung erhalten. Ein Beispiel dafür ist die Klage der Märtyrer in Offb 5,9ff, denen als Zeichen der Wiederherstellung ihres Rechtes ein weißes Gewand gegeben wird. Ferner betont Jesus, dass erwiesene Barmherzigkeit niemals ein Minus-Geschäft ist, auch wenn sie mit Undankbarkeit und Ignoranz beantwortet werden sollte. Der Barmherzige wird von Gott barmherzig behandelt, der ihm die erwiesene Güte gewissermaßen zurückschenkt. Das reine Herz, welches im geistlichen Leben nur durch regelmäßige Buße und Beichte entstehen und in dieser Gesinnung bleiben kann, darf tief in die Schau Gottes eindringen. Dieser Wunsch, den schon Mose geäußert hat (2 Mose 33,18) und von dem auch Elia beseelt war (1 Kön 19,11ff), wird auf dem Berg der Verklärung ebenso in den Jüngern geweckt (Mt 17,4). Eine solche unmittelbare Berührung durch die Gegenwart Gottes setzt ein erwecktes Glaubensleben erst richtig frei. Denen, die das versöhnte Miteinander suchen und sich dafür in den unterschiedlichsten Lebenslagen einsetzen, wird zugesichert, dass Gott sie in unmittelbarer Weise als seine Kinder bestätigt. In einer Zeit, wo Protest, Konfrontation und Demonstration auch unter Christen als besonders verdienstvolle Werke gelten, sollte diese Aussage über die Friedensstifter neu gehört werden. Zum Schluss spricht Jesus den um seines Namens willen Verfolgten zu, dass ihnen Gottes Reich gehört, und zwar in dem Sinn, dass sie dessen Gnade und Kraft in besonderer Herrlichkeit empfangen. Selbst erlittener Rufmord wird im Himmel reichlich belohnt werden, sagt Jesus, denn die Propheten des Alten Bundes wurden auch nicht anders behandelt.
3. Höhepunkt: Christus wird offenbar
Als Christen werden wir mit der Not und Ungerechtigkeit dieser Welt immer verbunden sein. Von daher wird es in unserem Leben immer auch schmerzliche Begrenzungen geben. Es macht aber einen großen Unterschied, ob ich gegen sie aufbegehre bzw. an ihnen verzweifle, oder ob ich sie zu Christus bringe. Die Verheißungen dieses Abschnittes der Seligpreisungen gelten nämlich ausschließlich für die unmittelbare Christusbeziehung. Nur dort kann die verheißene Freude empfangen werden. Daher kommt es darauf an, dass wir in unserem inneren Leben nicht zulassen, dass „atheistische Inseln“ entstehen, was bedeutet, dass wir bestimmte Lebensbereiche von der Gottesbeziehung abkoppeln. Aus der Seelsorge weiß ich, wie schnell das gehen kann, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Es darauf an, dass wir in unserem inneren Leben nicht zulassen, dass „atheistische Inseln“ entstehen, was bedeutet, dass wir bestimmte Lebensbereiche von der Gottesbeziehung abkoppeln.
Dieser neunfache Zuspruch der Gottesfreude knüpft an den größten Bedrängnissen unseres Lebens an. Damit ist klar: Jesus bewahrt uns nicht vor allen Leiden, aber er offenbart seine Macht inmitten unserer größten Not. Das ist die Grundlage des Evangeliums und damit auch der Seelsorge, wie Jesus sie betrieben hat. Gottesfülle und Verzichtsbereitschaft sind keine Gegensätze, sondern einander bedingende Grunderfahrungen des Glaubens.
Autor
Pastor im Julius-Schniewind-Haus, Schönebeck
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Julius-Schniewind-Haus
In der Mitte des letzten Jahrhunderts erkannte die Kirchenleitung der evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (mit Sitz in Magdeburg) die Notwendigkeit, eine Einkehrstätte für Menschen zu schaffen, die biblische Glaubensunterweisung und seelsorgerliche Hilfestellung suchen. Bis heute sieht sich das Julius-Schniewind-Haus diesem Anliegen verpflichtet und lebt es in Verkündigung, Seelsorge, Gebet, Versöhnungsdienst und Gotteslob.