Erfahrung von Chiara Lubich
Dr. Gudrun Griesmayr, Ottmaring
Ein charismatischer, vom Heiligen Geist gewirkter Aufbruch unserer Zeit ist die Spiritualität Chiara Lubichs (1920–2008), die ihre Mitte im Gedanken der Einheit hat gemäß dem Gebet Jesu an den Vater: Alle sollen eins sein: wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast (Joh.17,21). Chiara Lubichs Ansatz bei diesem zentralen Inhalt der neutestamentlichen Offenbarung erwuchs aus einer Neuentdeckung des Evangeliums während des Zweiten Weltkriegs, die im Rahmen der [[Fokolar-Bewegung]] zunächst unter katholischen Christen um sich griff und seit Beginn der 60er-Jahre immer mehr Christen verschiedener Kirchen erreicht hat.
Entdeckung des liebenden Gottes
Die junge Trienter Lehrerin [[Chiara Lubich]] war eine praktizierende Katholikin, und doch wusste sie nicht, wie sie die brennende Sehnsucht, immer für Gott zu leben, verwirklichen sollte. Der Zweite Weltkrieg zeigte ihr auf drastische Weise, dass alles vergänglich ist (vgl. Koh./Pred.1,2). Die Lebensträume zerplatzten wie Seifenblasen. Wie viele andere fragte sich auch Chiara, was im Leben letztlich Bestand hat, worauf man bauen konnte. Die „Antwort“ fiel ihr unversehens zu, als jemand ihr nach einer großherzigen Geste sagte: „Gott liebt dich über alles!“ Dieses Wort „traf mich wie ein Blitz„, sagte sie anschließend. Zu verstehen, dass Gott die Liebe ist (vgl. 1.Joh.4,8.16), war für sie und einige ihrer Freundinnen, denen sie davon erzählte, wie eine Entdeckung: „Auch vorher hatten wir versucht, als Christen zu leben, aber nun merkten wir, dass wir bis dahin wie Menschen gelebt hatten, die nur auf diese Welt schauen?… Kaum hatten wir verstanden, dass Gott Liebe ist, fühlten wir uns als Kinder des Vaters im Himmel. Es begann eine spontane, menschlich-göttliche Beziehung zu ihm?… Gott ist kein ferner, unbeweglicher und den Menschen unzugänglicher Gott. Er ist die Liebe und kommt dem Menschen auf tausend Weisen entgegen!“
Es war, als hätte jemand einen Schleier weggenommen, sodass für Chiara die Spuren der göttliche Liebe sichtbar wurden: „Immer und überall ist er da, und er lässt mich verstehen, dass alles Liebe ist: was ich bin und was mir widerfährt, was wir sind und was uns betrifft?… Nichts entgeht seiner Liebe, auch nicht die Fehler, die ich begehe, denn er lässt sie zu. Seine Liebe umgreift ebenso wie mich alle Christen, die Kirche, die Welt, das ganze Universum. Er trägt mich und öffnet meinen Blick für alle Dinge und Menschen; ich sehe auch sie als Frucht seiner Liebe.“
Gott als die Liebe zu erfahren war für Chiara mit der Entdeckung verbunden, dass er ihr Vater und sie seine Tochter ist. Sie fand eine unmittelbare, vorher nicht gekannte Beziehung zu ihm. Von diesem Vater wusste sie sich getragen, auch in den Unbilden des Krieges. Das gab ihr Vertrauen, Sicherheit, Licht und Frieden. Viele Schriften von ihr bezeugen, wie die unsagbare, geheimnisvolle Wirklichkeit des „Vaters im Himmel“ in ihr Leben eintrat. Chiara fühlte sich gedrängt, dass viele Menschen von dieser „Neuigkeit„, die Jesus offenbart hat und die Dreh- und Angelpunkt der Frohen Botschaft ist, hören und sie im eigenen Leben erfahren. Wir dürfen Gott „Vater“ nennen, ja er möchte, dass wir ihn als „unseren Vater“ anrufen. Diese Wirklichkeit der Gotteskindschaft, zu der jeder Mensch berufen ist, hat ihren Ursprung in der innertrinitarischen Beziehung des Sohnes mit dem Vater im Geist, an der wir in Jesus Christus Anteil erhalten. Chiara schreibt: „Auch Jesus hat gebetet und mit seinem Vater im Himmel gesprochen: ,Abba‘, lieber Vater. Mit grenzenlosem Vertrauen und voller Zuneigung sprach er mit ihm: Es ist das Beten des Sohnes, der zweiten göttlichen Person?… Nicht zuletzt durch dieses einzigartige Beten hat er der Welt offenbart, wer er wirklich war: der Sohn Gottes. – Der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um uns Menschen in seine Beziehung zum Vater mit hineinzunehmen. Durch seinen Tod am Kreuz hat er uns erlöst und zu seinen Brüdern und Schwestern gemacht; durch die Gabe des Heiligen Geistes hat er uns in das Innerste der Dreifaltigkeit hineingenommen. So dürfen auch wir uns mit den Worten des Sohnes an Gott wenden: ,Abba, lieber Vater‘ (vgl. Mk.14,36, Röm.8,15). Darin ist alles enthalten: das blinde Vertrauen auf seine Liebe und schützende Hand, die Hoffnung auf seinen Trost und seine Kraft, die brennende Liebe zu dem, von dem man sich geliebt weiß?… ,Abba, lieber Vater‘, das ist ein einzigartiges christliches Gebet: Es lässt uns eintreten in das Herz Gottes.“
Der barmherzige Vater
Gott zeigt auf zahllose Weise, dass er Vater ist. Chiara hat unerschütterlich daran geglaubt, dass hinter allem und jedem, hinter jeder freudigen oder schmerzlichen Lebenssituation er steht, der die Liebe ist. Er sorgt für alle Menschen und führt bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten (vgl. Röm. 8,28).
Diese fürsorgliche Liebe des Vaters im Himmel hat Chiara oft gerade dann greifbar erlebt, wenn die eigenen Möglichkeiten erschöpft waren. Manchmal überhäufte Gott sie und ihre Gemeinschaft geradezu mit Gütern, die sie weitergeben konnten.
Der „vollendetste“ Ausdruck der väterlichen Liebe Gottes, so Chiaras tiefste Überzeugung, ist seine Barmherzigkeit: „Ich spüre meine Unfähigkeit, doch ich vertraue sie Gott an. Alles gründe ich auf einen unerschütterlichen Glauben: Ich glaube an die Liebe Gottes. Ich glaube, dass Gott mich liebt.“ Dazu ist Jesus Christus für alle Menschen am Kreuz gestorben: „Versuche, die Skrupel zu vertreiben! Glaube daran, dass Jesus dir vergeben kann; er hat doch auch für dich am Kreuz die Verlassenheit durchlitten!“
Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen (1.Joh 4,16). Dieses Wort war wie ein Leitmotiv in Chiaras Leben und Ausdruck einer tiefen Überzeugung. Dieser Glaube an die Liebe des Vaters gab Chiara die Kraft, stets Ja zu sagen zu dem, was Gott von ihr wollte, auch durch alle inneren und äußeren Schwierigkeiten und Anfechtungen hindurch – bis zuletzt, auch in der Stunde ihres Todes. Diesen Glauben an die Liebe Gottes, der unser Vater ist, hinterlässt sie uns als Zeugnis einer geliebten Tochter Gottes und als Ermutigung zur eigenen Christusnachfolge.