…oder Von der Vaterschaft Gottes

Walter Goll

Geheimnisvoll waltest du überall, Herr, und überall bist du verborgen. Du bist in der Höhe zugegen, und sie fühlt dich nicht; du bist in der Tiefe zugegen, und sie umgreift dein Wesen nicht. Ganz bist du nur Wunder, wo immer wir dich suchen. Nahe bist du und ferne. Wer gelangt zu dir? Der forschende Geist mit all seinen Sinnen vermag es nicht. Dir naht der Glaube nur, nur die Liebe, nur das Gebet.
Ephräm der Syrer

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[[Ephräm der Syrer]]
ephram(† 9. Juni 373 in Edessa war ein Heiliger, Schriftsteller und Kirchenlehrer. Er gilt als einer der bedeutensten Theologen der syrischen Kirche. Da Ephräm vor den großen Kirchenspaltungen lebte, wird er in vielen östlichen und westlichen Kirchen sehr geschätzt und verehrt.)
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Aufruhr, Erschütterungen, Veränderungen weltweit

Völker sind in Aufruhr, Gesellschaften verändern sich innerhalb kurzer Zeit radikal. Erstarrtes kommt in Bewegung. Wir sind in unseren Tagen Zeugen von sehr überraschenden Wendungen weltweit. Die politischen und sozialen Unruhen in nordafrikanischen und arabischen Ländern, verbunden mit massenhaften Protestkundgebungen erinnern an die Ereignisse der Wende vor gut zwanzig Jahren. Es ist so, als wenn sich ganz überraschend ein Ventil öffnet und sich das Angestaute mit großer Wucht entlädt. Dabei beschleunigen die modernen Kommunikationsmittel solche Vorgänge sehr wirksam und global.

Nicht weniger bedeutend waren und sind die Ereignisse während der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Überwunden ist sie noch lange nicht. Sie hat sich zu Staatskrisen ausgeweitet und lässt ganz Europa zittern. Auch die Weltmacht USA muss erkennen, dass ihr Einfluss, ihre Macht deutlich abnimmt. China sowie andere aufstrebende Mächte gewinnen an Bedeutung.

Veröffentlichungen geheimer Dokumente durch Wikileaks haben große Verunsicherung hervorgebracht. Der arabische Sender Al Dschasira hat in ähnlicher Weise heftigen Aufruhr unter den Palästinensern ausgelöst, weil Geheimabsprachen palästinensischer Politiker mit Israel bekannt geworden sind.

Verunsicherungen, Krisen, Gefährdungen persönlicher Art

Solchen weltweiten politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen stehen Umwälzungen im persönlichen Bereich zur Seite. Plötzlich verändert die Diagnose Krebs alles, was bisher war. Ein Unfall wirft alles über den Haufen. Ein Zerwürfnis zwischen Menschen bringt bedrückende Beschwernisse mit sich. Das Vertrauen ist sehr gefährdet, Verletzungen hemmen das Miteinander. Der Verlust des Arbeitsplatzes verunsichert. Die Grenzen des Alters, das Nachlassen des Denkvermögens und körperlicher Fähigkeiten kann depressiv machen. Bisher Gewohntes und Geschätztes steht auf dem Spiel, weil eine gute Versorgung nur noch im Pflegeheim zu gewährleisten ist. Eine hoffnungsvolle und intensive Beziehung im blühenden heiratsfähigen Alter scheitert auf einmal. Ein Kind muss erleben, wie die Eltern sich immer weniger verstehen und plötzlich auseinander gehen.

Was bleibt? Wer hat das Sagen?

Angesichts solcher Ereignisse und Erfahrungen bricht die Frage auf: Was bleibt eigentlich? Worauf kann ich mich noch verlassen? Wer bleibt denn noch? Was und wer ist denn wirklich verlässlich? Wer hat eigentlich zuletzt das Sagen, persönlich und weit darüber hinaus?

Mit dem Gebet, das Jesus seine Jünger gelehrt hat, ist uns eine tiefgreifende Hilfe gegeben. Schon der Anfang mit den ersten vier Worten erschließt uns einen unermesslichen Raum des Erbarmens und Friedens, also der Liebe Gottes. Das Vaterunser, „soweit wir es im Glauben annehmen und aus seinem Geist handeln, bringt alle unsere Beziehungen in eine wahrhaftige Ordnung und weist uns genau unseren Ort im Universum zu“ – so drückt es Richard Rohr einmal aus (R. Rohr, Vision einer neuen Welt, Die Bergpredigt des Jesus von Nazareth, Herder 3. Aufl. 1999).

Vater unser im Himmel

vaterunser

– ja, er hat Himmel und Erde erschaffen. Er reicht weit über unser Denk- und Vorstellungsvermögen, über Raum und Zeit hinaus. Zugleich durchdringt er alles. Er kommt uns Menschen in seinem Sohn Jesus so unfassbar nahe. Wenn wir uns Jesus anvertrauen, dürfen wir ihn als Seine Kinder wie Jesus „Abba“ nennen. Und er stellt uns in eine unverbrüchliche Gemeinschaft. Er holt jeden Einzelnen heraus aus der Vereinzelung und Heimatlosigkeit in die geliebte Kinderschar des Höchsten. Er ist der, von dem alles kommt, der alles zusammenhält und in dem das ganze All seine Vollendung findet.

Vater unser…

Abba spricht Jesus seinen Vater an, vergleichbar mit unserem „Papa“. Das ist die Anrede eines Kleinkindes, das ist Kindersprache, ein Alltagswort. Welch eine unvorstellbare Nähe zum Angesprochenen kommt da zum Ausdruck, welch eine Vertrautheit und Zärtlichkeit. Ungewöhnlich war es für die Zeitgenossen Jesu, Gott so anzureden. Aber gibt es einen schöneren Beleg für das von Liebe geprägte Vater-Sohn-Verhältnis?

Diese Anrede hat Jesus seinen Jüngern nachzusprechen erlaubt. Das ist das unerhört Neue gegenüber der vorausgegangenen jüdischen Gebetspraxis. Im Unterschied zu allen anderen Religionen hat das Volk Israel seinen König und Gott auch schon als liebenden Vater gesehen und erlebt. Aber so tief verbunden, so unverbrüchlich treu, so liebend nahe, so fest und verlässlich, ohne jeden Raum für einen Hauch von Zweifel oder eine mögliche Ahnung von Verlassenheit, so intensiv ist die Liebesbeziehung Gottes zu uns nur in Christus ermöglicht.

Vater unser…

Durch Jesu Brudersein, durch das göttliche Geschenk der Kindschaft sind wir mit allen, die zu Jesus gehören, in die eine Gottesfamilie gestellt. Wie unterschiedlich sind wir verschiedenartigen Christen, wenn wir uns umschauen. Vieles ist uns fremd und ungewohnt. Welch seltsame Ansichten und Frömmigkeitsstile gibt es da. Vieles ist uns auch gleichgültig, was sozusagen im anderen Stall passiert.

Könnte es sein, dass Gott, unser Vater, sich an unserer Unterschiedlichkeit freut? Und wir, können wir uns mitfreuen? Er ist unser gemeinsamer Vater, Seine Liebe gilt allen Seinen Kindern in gleicher Weise und Intensität! Wir sind durch die Vaterschaft Gottes, die uns in Christus eröffnet ist, in ein von Gott gestiftetes Miteinander gestellt – ist uns das bewusst? Bei aller Unterschiedlichkeit, bei allen Differenzierungen und Eigenarten ist uns in der Vaterschaft Gottes eine versöhnte Gemeinschaft angeboten. Sich vom eigenen engen Selbstverständnis, vom auch vorhandenen frommen Egoismus abzuwenden und zu Ihm hinzutreten ist dieser wunderbare lebendige Weg, der uns in Christus eröffnet ist. Lasst uns mit Zuversicht hinzutreten zum Haupt und zum Thron Gottes, dass von da aus das ausgleichende und versöhnte Miteinander geschehen kann. So wird die Liebe Gottes ihren Weg zu den Menschen finden.

Vater unser im Himmel…

Auch jenseits unserer menschlichen und irdischen Wirklichkeit lebt der Vater. Er ist das Maß und der Ursprung aller Vaterschaft. Er ist der Ungezeugte, der vor allem Anfang lebt. Er lebt als der dreieinige und dreifaltige Gott jenseits aller Zeit und durch alle Zeiten hindurch das geheimnisvolle gemeinsame Leben der Liebe. Er ist die Liebe. Sein geliebter Sohn ist das Bild des unsichtbaren Gottes. Wer mich sieht, sieht den Vater (Joh.14,9) sagt Jesus und Ich und der Vater sind eins (Joh.10,30). Mit diesen Aussagen provoziert er jede menschliche Sicht der Dinge, auch jede gut gemeinte religiöse, die nicht den Glaubenssprung, das ganze Vertrauen in das wirkliche Nahekommen Gottes in Jesus wagen kann. Aber in seinem Sohn zeigt sich Gott. Er tritt heraus aus dem Geheimnis seiner verborgenen Herrlichkeit, ohne das Gottesgeheimnis aufzulösen.

Er ist der Ursprung aller Dinge. Er hat in Christus alles geschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und Unsichtbare. Das All hat durch ihn seinen Bestand und es gefiel Gott, durch ihn das All zu versöhnen zu ihm hin, indem er Frieden stiftete durch seinen Tod am Kreuz – … alles, was auf Erden und im Himmel ist (Kol.1,15-20). Gott, der Vater, liebt also durch den Weg seines Sohnes die Welt, den Kosmos so intensiv, dass das alles Denken und alle Erfahrung weit übersteigt. So stiftet der Vater Versöhnung. So ist für alle und alles im Sohn die wunderbare Heimkehr ins Vaterhaus eröffnet. Was undenkbar schien ist möglich geworden. Was verloren ist und war, dem ist Rettung angeboten.

Die Liebe Gottes sprengt unsere Vorstellungen und Erfahrungen. Die Vaterschaft Gottes, die uns in Christus so unerhört liebevoll nahekommt, ist zugleich umwerfend weit. Da alles seinen Ursprung und auch sein Ziel in Gott hat und von seiner Liebe lebt, beantwortet sich die ursprünglich gestellte Frage nach dem Bleibenden und dem, der das Sagen hat, von selbst. Und wir, die wir im Glauben jetzt schon seine Vaterschaft erkannt haben, sind durch ihn in die große Verwandtschaft mit allen und allem gestellt. Durch ihn, den Vater im Himmel, sind wir in das viel größere „Wir“ hineingenommen, das alle Grenzen überschreitet, alle Mauern niederbricht und Frieden schafft. Ist es das, was durch die Erschütterungen in der Geschichte und ganz aktuell im Kleinen und Großen geschieht, damit zuletzt das Unerschütterliche hervorkommen kann und bleibt (Hebr.12,27)?