Michael Decker

Ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein (Hes 37,27)

Hat Gott eine Adresse?

Der Apostel Paulus war innerlich empört. Bei einem Rundgang durch die Stadt sah er, wie viele Götterbilder es in Athen gab. Vermutlich atmete er auf, als er einen Altar entdeckte mit der Inschrift: „Für einen unbekannten Gott”. Als sich die Philosophen später für die Lehre des Apostels interessierten, konnte er daran anknüpfen: Ihr Männer von Athen! Ich sehe, dass es euch mit der Religion sehr ernst ist. Ich bin durch eure Stadt gegangen und habe mir eure heiligen Stätten angesehen. Dabei habe ich auch einen Altar entdeckt mit der Inschrift: „Für einen unbekannten Gott”. Was ihr da verehrt, ohne es zu kennen, das mache ich euch bekannt. Es ist der Gott, der die Welt geschaffen hat und alles, was darin lebt. Als Herr über Himmel und Erde wohnt er nicht in Tempeln, die ihm die Menschen gebaut haben (Apg 17,22ff).


Bereits König Salomo, der Erbauer des ersten Tempels in Jerusalem, wusste, dass kein menschliches Haus Gott fassen könnte. Im Gebet zur Einweihung des Tempels fragte der König: Bist du nicht viel zu erhaben, um bei uns Menschen auf der Erde zu wohnen? Ist doch selbst der ganze weite Himmel zu klein für dich, geschweige denn dieses Haus, das ich gebaut habe! (2Chr 6,18)
Wie ein roter Faden zieht sich diese Botschaft durch die Bibel: Der Allerhöchste wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Denn so spricht der Herr: Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße! Was ist denn das für ein Haus, das ihr mir bauen könntet, oder welches ist die Stätte, da ich ruhen sollte? Meine Hand hat alles gemacht, was da ist (Apg 7,48ff).
Das Judentum steht jedem Bauwerk aus Holz und Stein, in dem Gott wohnen soll, skeptisch gegenüber. „Für einen Israeliten ist schon der Umstand, dass man in den Raum hineinbaut, Ärgernis erregend. Der Jude baut im Reich der Seele und in der Zeit. Seine eigentlichen Kathedralen sind innerlich und zutiefst der Geschichte verschwistert. Stets unvollendet verdanken sie ihre Kraft dem beständigen Werden, das niemals zu Ende kommt … Niemals sieht man in einem einzigen Augenblick der Geschichte etwas Absolutes. Die eigentlichen jüdischen Bauwerke sind … die unaufhörlichen Kommentare zum Wort Gottes” (R. Aron, Die verborgenen Jahre Jesu, S. 135).

Wo wohnt Gott?

Zu Beginn der Geschichte Israels schien es noch anders: Seit der Wüstenwanderung galt zuerst die Stiftshütte und später der Tempel als Inbegriff der Wohnung Gottes unter seinem Volk. Gott wohnte im Schnittpunkt von Himmel und Erde. Im Tempel war er nah und doch blieb er auch fern.
Immer wieder hatte Gott davon gesprochen, wie sehr er sich danach sehnt, eine Wohnung in dieser Welt zu finden. Sein Volk sollte der bevorzugte Ort sein, in dessen Mitte er gegenwärtig ist. Die Beter erkannten Gottes Sehnsucht und sangen davon in ihren Psalmen: Der Herr hat Zion erwählt, und es gefällt ihm, dort zu wohnen (Ps 132,12). Propheten hielten die Erinnerung daran wach: Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der Herr (Sach 2,14).
Als einige Sippen des zerstreuten Volkes aus der Verbannung in Babylon wieder nach Jerusalem zurückkehrten, gelang es den Priestern, die Menschen erneut für den Tempelbau zu ermutigen. Obwohl die wirtschaftliche Lage katastrophal war, drängten sie, am Wohnungsbau für Gott nicht zu sparen. Den Grund für die langen Dürreperioden und für die Streitereien der Rückwanderer um Grundstücke sah der Profet Haggai darin, dass Gottes Haus vernachlässigt war: Merkt ihr denn nicht, weshalb es euch so schlecht geht? – Dieses Volk behauptet, es sei noch zu früh, meinen Tempel wieder aufzubauen. Aber es ist offenbar nicht zu früh, dass sie selbst in prächtigen Häusern wohnen, während mein Haus noch in Trümmern liegt! … Ihr lasst mein Haus in Trümmern liegen und jeder denkt nur daran, wie er sein eigenes Haus baut! Deshalb kommt vom Himmel weder Tau noch Regen für euch und die Erde lässt nichts mehr wachsen … (Hag 1,4ff). Der Aufruf zur Wiederherstellung des Tempels brachte mäßigen Erfolg. Die Wohnung Gottes wurde zwar an der alten Stelle auf dem Zionshügel wieder aufgebaut, doch für Jahrhunderte erhielt sie nur eine bescheidene Ausstattung. Erst Herodes ließ knapp 500 Jahre später einen Prachtbau im griechischen Stil errichten. Der König dachte dabei aber mehr daran, sich selbst ein Denkmal zu setzen. Er sah die Gegenwart Gottes inmitten des Volkes nur noch auf den Tempelkult beschränkt.
Parallel zur ‘materiellen’ Vorstellung vom Wohnen Gottes in der Mitte seines Volkes und der Welt, spricht die Bibel auch davon, dass Gott im Leben seines Volkes und in den Herzen der Einzelnen durch sein Wort, im Geist und in der Wahrheit, gegenwärtig ist.
Die alten Propheten lehrten, dass sich Gottes Nähe im guten Verhalten der Menschen widerspiegelt: Bessert euer Leben und euer Tun, so will ich bei euch wohnen an diesem Ort (Jer 7,3). Solange das Volk in der Bundestreue zu seinem Gott bleiben würde, solange durfte es seiner Gegenwart gewiss sein. Die anderen Völker sollten erkennen, dass der eine lebendige Gott seine heilige Wohnung inmitten seines Volkes nicht verlassen würde (vgl. Hes 37,25ff).
Auch die ntl. Schriften kennen Gottes Sehnsucht. Johannes weist schon in den ersten Sätzen seines Evangeliums darauf hin: Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt (wörtl. gezeltet) und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit (Joh 1,14). Jesus Christus wird der Wohnort Gottes. In ihm ist die göttliche Fülle gegenwärtig, damit Gott durch ihn alles mit sich versöhnen würde (vgl. Kol 1,19; 2,9). Und der Sohn bekennt sich zu dieser Aufgabe. Er weiß, dass der Vater in ihm wohnt und durch ihn das Werk der Erlösung tut (vgl. Joh 14,10).

Ist Christus zerteilt?

Später führen die Apostel dieses Werk weiter. Sie erkennen, dass die Gemeinde vor Ort und die ganze Kirche Gottes Tempel ist. Sie rufen jeden Einzelnen herbei, sich als lebendigen Stein in das „eine” geistliche Haus einbauen zu lassen (vgl. 1Petr 2,4f). Die Apostel beugen ihre Knie dafür, dass Christus durch den Glauben in den Herzen wohnt und alle in der Liebe eingewurzelt und gegründet sind (Eph 3,17).
Die geistliche Wohnung Gottes im Herzen der Menschen und im Leben der Kirche aber ist zerbrechlich – noch zerbrechlicher als die Bauten aus Stein und Holz. Schon zu Lebzeiten der Apostel kam es in den Gemeinden zum Streit. Der Tempel des Heiligen Geistes war gefährdet, weil im Haus Gottes menschliche Zwischenmauern errichtet wurden. In Korinth hielten sich einige zu Apollos, andere zu Kephas und wieder andere zu Christus, so dass Paulus erregt dazwischen rief: Ist denn Christus zerteilt? (1Kor 1,13) Konfessionelle Eigentumswohnungen haben bis heute den Glanz der göttlichen Wohnung immer wieder getrübt und verdunkelt. Wo sollen Menschen einziehen und heimisch werden, wenn sie in dem einen Vaterhaus wohnen möchten? Wer öffnet ihnen den Blick und das Verständnis dafür, dass es nur einen Tempel, einen Dom, eine Basilika – dieses „eine” gemeinsame geistliche Haus gibt? Sicher hat es unterschiedliche Räume, weil die Menschen unterschiedlichen Zeitaltern und Mentalitäten angehören. Doch niemals kann behauptet werden, dass es getrennte Wohnungen Gottes gibt, in denen Gott nur zeitweise oder in unterschiedlicher Weise nahe wäre.
Am Ende der Bibel öffnet sich der Blick in die zukünftige Wirklichkeit. Gott selbst wird und muss die Zeit kommen lassen, in der sich seine Wohnungssuche ein für allemal vollendet. An jenem Tag wird eine laute Stimme vom Thron her rufen: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein (Offb 21,3).