Ein Katholik lernt evangelische Kirche kennen
Michael Erkelenz
Ich bin in einer römisch katholischen Familie in einem Dorf am Niederrhein geboren. Die Bevölkerung unseres Ortes ist etwa zur Hälfte katholisch, zur Hälfte evangelisch (Landeskirche). Man kennt sich und doch geht jeder in seine eigene Kirchengemeinde. Meine Familie war schon seit Generationen in der röm.-kath. Kirche eingebunden, und somit auch verbunden. Ich selbst fand meinen Platz dort in der Pfarrjugendarbeit und im Engagement für die Kirchengemeinde. Die Gemeinde war mir vertraut, und ich kannte viele Menschen. Ich bin dort zu Hause. Ortsgemeinde und röm.-kath. Kirche bilden den Rahmen und ich fühle mich als Teil der weltumspannenden Kirche Jesu Christi.
Es gibt dort für jeden einen Platz, in Jugendgruppen, im Kirchenchor und Seniorenkreis, in unterschiedlichen Verbänden, im Kindergarten und Krankenhaus. Es gibt keinen Lebensbereich, der nicht innerhalb dieser Kirche mitversorgt würde. Was sollte mir fehlen? In welcher Lebenslage auch immer man ist, es gibt dort für alles Gruppierungen und Verbände unter diesem röm.- kath. Dach. Ich erlebe diesen Organismus in einer Vielfalt, die immer noch ein wenig bunter ist als ich es selbst gedacht hätte. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn bei dieser Vielfalt ganz unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Nicht jeder in der röm.-kath. Kirche ist gleich ein begeisterter Marienverehrer, nicht jeder hat einen Zugang zum Rosenkranz und auch nicht jeder findet alle Bischofsworte und päpstliche Schreiben direkt gut.
Eigentlich könnte ich doch zufrieden sein mit dieser Situation und es passte ja auch alles gut zusammen, wenn ich nicht durch meine damalige Freundin und jetzige Frau (die auch aus der röm.-kath Kirche kommt) Menschen kennen gelernt hätte, die über ihren christlichen Glauben so ganz anders sprachen, als ich das bislang kannte.
Evangelische Bereicherung
Es war ein charismatischer Kreis Jugendlicher, der in der katholischen Gemeinde stattfand, aber auch ganz viele Kontakte zu Christen außerhalb dieser Kirchengemeinde hatte. Da waren ganz andere Themen im Gespräch, als ich sie bislang kannte – Fragen wie: „Wann hast du dich bekehrt?“ „Ist das, was du tust, eigentlich Gottes Wille oder handelst du da aus dir heraus?“ „Was ist dran (zu tun) aus Gottes Sicht?“ „Was hast du mit Jesus erlebt?“
Diese und so manche andere Frage forderte mich heraus, weil sie mir so nie gestellt worden war, aber sie machten auch neugierig, warum diese Christen jenseits der röm.-kath. Kirche so anders sind. In diesem Erleben sah ich viel Neues, was ich bisher nie gekannt hatte:
- Die Bibel ernster zu nehmen, sie als das Wort Gottes zu sehen und damit zu leben.
- Jesus mehr Raum in meinem Leben zu lassen, ja ihm mein Leben zu überlassen; aus einer persönlichen Jesusbeziehung zu leben.
- Freies Gebet, eine ganz andere Weise zu Gott zu sprechen.
- Hauskreise, ein Austausch zu Glaubenssituationen, persönliche Seelsorge zwischen Christen, die gemeinsam auf dem Weg sind; nicht nur Seelsorge durch einen Priester.
Solche Erfahrungen, wie sie vielleicht Geschwistern aus den evangelischen oder freikirchlichen Gemeinden vertraut sind, waren für mich fremd und neu, doch sie haben mich reicher gemacht und meinen Horizont erweitert.
Zeitweise war ich auch auf dem Weg die röm.-kath. Kirche zu verlassen, denn manch freikirchliche Form war doch viel lebendiger, authentischer als diese röm.-kath Kirche mit ihrer langen Tradition und ihren festen Ordnungen. Gott hat mir jedoch gezeigt, dass dies nicht der Weg ist. Er hatte sich etwas dabei gedacht, mich an diesen Platz in die röm.-kath. Kirche zu stellen; denn ich werde dort gebraucht. So bin ich geblieben.
Unterschiede trennen nicht
Heute entdecke ich immer wieder neu andere Facetten in der evangelischen Kirche. Ich darf sie verstehen lernen, ohne ihnen nachlaufen zu müssen. Ich darf mich damit eins machen, auch wenn ich es selbst vielleicht anders kenne. Ein Beispiel:
Gottesdienste waren für mich typischerweise immer Wortgottesdienst und Eucharistiefeier; diese gehören aus röm.-kath Sicht zum „normalen“ Gottesdienst (Messe). Es gibt natürlich auch andere Liturgien, wie eine Andacht, das Rosenkranzgebet, die Anbetungsfeier usw. Oftmals treten sie, da sie nicht zwingend einen Priester erfordern, im Ansehen der Gläubigen jedoch zurück. In Zeiten von Priestermangel, den die röm.-kath. Kirche zur Zeit sehr massiv erlebt, kann manchmal auch die Sonntagsmesse durch den Pfarrer oder seinen Vertreter nicht immer geleistet werden; dann gibt es einen Wortgottesdienst (auch von Laien gehalten) als Alternativangebot. Das Verständnis hierzu ist aber manchmal schon sehr verschieden und wird auch in den Herzen vieler Katholiken nicht als gleichwertig angesehen. Je mehr ich auch die evangelische Sicht kennen lernte, sah ich, dass auch die für mich „normale“ Gottesdienstform gar nicht so selbstverständlich war. In manchen Gemeinden gibt es nicht jede Woche ein Abendmahl und auch die Liturgie, in der man sie feiert, ist oftmals ganz unterschiedlich; doch viele evangelische Geschwister spüren eine tiefe Sehnsucht danach. So wird etwas für mich „Normales“ für einen andern Christen zu etwas „Besonderem“ und umgekehrt.
Heute sehe ich mich selbst mit einer erweiterten Sicht zum Kirchenverständnis beschenkt. Ich durfte erfahren, dass die röm.-kath. Kirche Vieles in sich trägt, aber mindestens genauso Vieles nicht hat, was auch zur Kirche Jesu gehört. Ich darf das entdecken mit Freude und mit Dankbarkeit.
Ich selbst kann diese Vielfalt nicht haben und muss sie auch nicht haben, aber ich darf sie teilen mit Geschwistern, die mir begegnen und mich bereichern. Es geht nicht darum, wer die richtige und wahre Einstellung hat und sich damit gegenüber dem anderen abzugrenzen. Es ist mir wichtig geworden, andere besser zu verstehen, um dann auch ihre Sichtweisen und Schwerpunkte mittragen zu können.
Als katholischer Christ habe ich durch die Begegnungen und Erfahrungen auch mehr und mehr ein evangelisches Verständnis bekommen; mein Herz ist weiter geworden.