Gott sei Dank!
Es gibt die Liebe Gottes des Vaters für alle;
es gibt die Freiheit durch den Sohn Jesus Christus und sein Blut; es gibt die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, der die Herzen der Christgläubigen in der Liebe des Vaters verbindet und dadurch in alle Wahrheit leitet! Eine Liebe, eine Wahrheit, eine Freiheit und eine Einheit bei aller Verschiedenheit der Personen, der Völker und der Kirchen in der allerheiligsten Dreieinigkeit,
in unserem Einigen und Einzigen Gott,
der da war, der da ist und der da kommt
und in dem wir alle leben,
weben und sind!
Eugen Belz

 

Eine Bruderschaft Jesu Christi

Michael Decker

Vom Leiden an der einen Bruderschaft Jesu Christi.

Gott möchte die Menschwerdung des Menschen. Gott hat den Menschen zu seinem Ebenbilde und als Schöpfungsgehilfen geschaffen. Er hat Adam und Eva zwar aus dem Paradies gewiesen, weil beide versuchten, ohne ihn zu leben. Doch die Geschichte Israels und die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zeigen, dass das Menschsein nach dem Willen Gottes die Urberufung aller Menschen bleibt. Zum wahren Menschsein sind wir durch Jesu Kreuz und Auferstehung erlöst.

Die Kirche und Gemeinde Jesu Christi ist beauftragt, dieses Evangelium „aller Kreatur“ (Mk 16,15), „allen Völkern“ (Mt 28,19) zu verkündigen. Diese Botschaft richtet sich an jeden Menschen. Jeder soll ins Vaterhaus Gottes gerufen werden.

Den Einzelnen, der diesen Ruf hört, drängt es zu antworten. Er wird zu einem Menschen nach dem Willen und Bild des Schöpfers, weil er sich mit seinem ganzen Dasein auf Gott ausrichtet und sich ihm überlässt. Das bedeutet immer wieder Umkehr aus einer falschen Richtung, aus einem Leben ohne Gott . Die Bibel nennt den neuen Weg, der beschritten wird, Nachfolge oder Heiligung. Jeder ist eingeladen, den Weg des Lebens zu suchen und zu finden, der ihn zum Heil- und Ganzwerden seines Menschseins führt. Bereits zu Abraham sagt Gott: „Wandle vor mir und sei ein Ganzer!“ (Gen 17,1).

Auf dem christlichen Weg geht Jesus voran. Er ist das Bild des wahren Menschen und der Erstgeborene unter vielen Brüdern und Schwestern (vgl. Röm 8,29). Und er sagt selbst von sich: „Einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder“ (Mt 23,8). – Das Volk dieser Brüder und Schwestern ist die eine Bruderschaft Jesu Christi. Dieses Volk hat den Namen daher, dass Jesus gegenüber seinen Nachfolgern, den Männern und Frauen, Dienern und Dienerinnen und darüber hinaus allen Menschen zum Menschenbruder geworden ist und immer neu wird.

Organismus, nicht Organisation.

Die Bruderschaft Jesu Christi ist keine Organisation mit einer bestimmten Struktur. Sie ist auch nicht einfach die Summe aller Bruderschaften, Kommunitäten, Orden und Bewegungen. Die Bruderschaft Jesu Christi ist ein von Gott her begleiteter Reifeprozess von Einzelnen, die dem wahren erstgeborenen Bruder Jesus Christus nachfolgen. Diese Einzelnen lassen sich von ihrem Meister lehren und verwandeln. Sie wachsen mehr und mehr heran zu dem einen Leib, bis sie „alle zusammen den vollkommenen Menschen bilden, der Christus ist, und hineinreifen in die ganze Fülle, die Christus in sich umfasst“ (Eph 4,13).

Wir dürfen nie der Versuchung erliegen, selbst die Bruderschaft Jesu Christi zu organisieren. Allein Gott weiß, wer zu diesem Volk gehört. Doch immer wieder geschieht es, dass Menschen, die sich auf diesen Reifungsweg eingelassen haben, sich erkennen, finden und sammeln. Diese Menschen können in Alter und Herkunft, Bildungsstand oder Tradition völlig verschieden sein. Aber weil Christus in ihnen lebt und weil sie ihn lieben, darum erkennen sie sich untereinander.

Schon oft fanden Menschen zusammen, die im ersten Moment gar nicht zueinander zu passen schienen. Über die Grenzen von Konfessionen hinweg, erkannten sie sich als Jünger Jesu und als Gottesmenschen. Sie erweisen sich als Brudermenschen (als Männer und Frauen, die Christus als tiefste Identität in sich tragen) und treffen sich mit anderen – unabhängig von menschlicher Sympathie oder Antipathie – im Wesen des ganzen Christus. Oft folgt dem inneren Erkennen auch die menschliche Nähe der Beziehung und Freundschaft nach.

Brudermenschen finden sich, und erkennen, dass sie in Gott eins sind. Weil der ungeteilte Christus in ihnen und in ihrer Gemeinschaft lebendig ist, gehören sie zu der einen Bruderschaft Jesu Christi. Sie achten ihre Traditionen und Begrenzungen gegenseitig, aber sie stehen doch wie über ihrer eigenen Herkunft, weil sie nur die eine wirkliche Bindung und Verpflichtung kennen – ihre Bindung an den ganzen Christus. In dieser Wirklichkeit kennen sie keine andere Lebensform mehr als die eine, alle und alles umfassende Gemeinschaft, die Gott ist. Sie bilden das Herz jeder Ökumene, weil sie von den Herzanliegen Jesu erfüllt sind. Sie wissen um die im Dreieinigen Gott ohne Aufhebung der Unterschiede bestehende, allumfassende und unzertrennliche Einheit. Daher wagen sie immer wieder neu die Mühe und Freude des gemeinsamen Lebens miteinander.

Auf diesem Boden und in solcher geistlichen Atmosphäre können andere Gemeinschaftsformen und Gruppen entstehen, die jede für sich ihre eigene Ausprägung und Sendung hat. Die Bruderschaft Jesu Christi als Verkörperung von Joh 17 und 1Kor 13 bildet die Grundlage, die allem vorausgeht, die in alles eingeht, die alles umfasst und die damit mehr ist als alle verschiedenen Werke und Einzelgemeinschaften.

Ein Aufbruch vor 100 Jahren.

Gottes- und Brudermenschen gab es zu allen Zeiten; auch im letzten Jahrhundert rief Gott Männer und Frauen und schenkte ihnen einen wissenden Geist und verstehende, liebende Herzen. Im Rückblick erscheinen sie als Väter und Mütter in einer Bewegung, deren Ausmaß nur Gott kennt. Sie haben die eine Bruderschaft Jesu Christi geglaubt, in ihr gelebt und ihr – obwohl oft wenig wahrgenommen – gedient.

Eugen Belz, Jahrgang 1900, gehört in diese Schar. Schon als junger Mann suchte er nach einer Gemeinschaft, die allen Menschen Bruder und Schwester ist – nicht nur mit dem Mund, sondern in annehmender, tätiger Liebe und ganzer Wahrheit. Was sich ihm in den verschiedenen Gemeinden, Gruppen und Kirchen, die er besuchte und kennen lernte, bot, brachte ihn jedoch nicht zur Ruhe. Wo lebten Menschen in der schlichten Nachfolge Christi? Wo sammelten sich Männer und Frauen, die die Unterschiede der christlichen Traditionen und Lehren aushalten und tragen konnten, ohne zu vermischen und zu verwischen, ohne zu verurteilen oder alles für sich zu beanspruchen?

Wegweisend wurde für Eugen Belz der Kontakt zum Schweizerischen Diakonieverein. Seit der Jahrhundertwende sammelten sich in und um Zürich ledige Männer, Frauen und Familien, zunächst zum Dienst an alten und kranken Menschen und später immer mehr auch zu einer umfassenden Diakonie am kranken Leib Christi. Damals sprach man noch nicht von der einen Bruderschaft Jesu Christi, aber die Vision und Gesinnung lebte bereits in dieser Gemeinschaft: „Niemand und nichts darf und soll uns trennen von dieser lebendigen, wirklichen Einheit (die vor dem Thron Gottes Realität ist): keine heilige Schrift, keine fromme Überzeugung, keine guten Werke, keine besonderen Einrichtungen, Tage oder Gottesdienste, nicht Vater oder Mutter, Frau oder Kinder, Bruder oder Schwester, Hab und Gut, auch die eigene Person nicht – alles dies gehört zum Leben und ist in demselben inbegriffen; aber es ist nicht das Leben selbst: Dieses ist Jesus Christus im dreieinigen Gott und in uns.“

Im Jahr 1924 gab Eugen Belz dem Vorsteher der ledigen Brüder vom gemeinsamen Leben, Gotthilf Haug, den Handschlag zur unzertrennlichen Bruderschaft. Durch Zeitumstände bedingt siedelte er sich in Heidenheim bei Gunzenhausen an und gründete dort 1928 mit Gleichgesinnten, die sich inzwischen gefunden hatten, die „Vereinigung vom gemeinsamen Leben“. In der Nähe des ehemaligen Klosters Heidenheim, dessen Grundstein die Brüder Willibald und Wunibald Ende des 8. Jahrhunderts gelegt hatten, baute Eugen Belz das erste Brüderhaus St. Wunibald. Die kleine Gemeinschaft wollte mit diesem Namen und an diesem Ort ein Zeichen der Verbundenheit mit der einen und ungeteilten Christenheit setzen.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die kleine Bruderschaft bedrängt und ihre Vereinigung schließlich verboten. Eugen Belz und sein damals engster Mitbruder Hans Holzinger überstanden die dunkle Zeit zunächst im Exil in Holland und wurden zuletzt auch noch zum Militärdienst eingezogen.

Neuaufbruch im Oekumenischen Christusdienst.

Durch die Kriegsnöte fanden unterschiedliche Menschen und Christen neu zusammen. In diesen Jahren und besonders seit der Wende um Stalingrad trafen sich heimlich in einem oberfränkischen Pfarrhaus einige Brüder und Schwestern zum Brotbrechen und Gebet – unter ihnen Paul Riedinger, Klaus Heß, Otto.S.v.Bibra u.a. Sie bezeugten ihre Zusammengehörigkeit in dem einen Leib Christi und ließen sich von der Leidenschaft des Rufes Jesu zur Einheit neu erfassen: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebhabt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh 13,34f).

Als Eugen Belz nach Heidenheim zurückkehren konnte, nahm er die Verbindungen wieder auf. Die wieder gegründete „Vereinigung vom gemeinsamen Leben“ erhielt den Zusatz „im Ökumenischen Christusdienst“ und trat ab 1948 mit Schriften und Versammlungen an die Öffentlichkeit. Es war Aufbruchs- und Aufbauzeit. Viele teilten das Anliegen, die unzertrennliche Zusammengehörigkeit aller Christusgläubigen zu stärken. Die Bewegung strebte dabei weder nach öffentlichem Einfluss noch legte sie auf Mitgliederzahlen Wert. Durch ökumenisch erweckte Menschen entstanden neue Gruppen verbindlichen Lebens und verschieden geprägte Bruder- und Schwesternschaften. Es folgten intensive Jahre, die – nicht zuletzt durch die Öffnungen, die das Zweite Vatikanische Konzil brachte – immer wieder von großer Hoffnung für das gemeinsame Zeugnis der Christen und für das gemeinsame Leben, Feiern und Dienen der Kirchen und Gemeinden erfüllt waren. In und mit manchen Gottesmenschen in diesen Bewegungen lebte anfangs auch das Ideal, die eine Bruderschaft Jesu Christi darstellen und zum Ausdruck bringen zu können.

Eugen Belz pflegte zu neu entstandenen Gruppen ebenso Kontakt wie zu Einzelpersönlichkeiten in den alten Kirchen. Von Heidenheim siedelte er zunächst nach München und später über Nürnberg nach Stuttgart über; von dort diente er an vielen Orten im Sinn und Geist der Botschaft des Ökumenischen Christusdienstes.

Als im Lauf der Jahre die verschiedenen Kommunitäten und Gemeinschaften wuchsen und ihre eigenen Prägungen entfalteten, als Zentren gebaut wurden und unterschiedliche Sendungen ihr Profil bildeten und nicht zuletzt als der erste Generationswechsel innerhalb der Gruppen kam, schien sich die Sehnsucht nach der einen allgemeinen Bruderschaft zu verlieren. Viele Gemeinschaften hatten sich als gemeinnützige Vereine und Körperschaften organisiert; sie sind bis heute notwendigerweise stark auch damit befasst, ihre satzungsgemäßen Zwecke zu erfüllen, die eigenen geistlichen und materiellen Güter zu verwalten und die angestrebten Ziele zu erreichen. Eugen Belz und andere mit ihm empfanden den Schmerz darüber, dass Vielen über dem sicher gottgegebenen Eigenen doch das Gemeinsame und Allgemeine aus dem Blick und Sinn geriet. Wo sind „die von innen heraus aus Gott und in Gott zur alle und alles umfassenden Einheit Wiedergeborenen… die Brüder und Schwestern Christi , die niemand mehr verpflichten braucht und die auch niemand mehr voneinander trennen oder lösen kann?“ Denn die eine Bruderschaft Jesu Christi definiert sich ja zuerst in einem lebendigen Organismus, in einem ganzheitlichen und geistlichen Verbundensein und nicht als eine sichtbare Organisation.

Eugen Belz bewahrte den Glauben, dass Gott selbst die eine Bruderschaft Jesu Christi will. In allen Gemeinschaften erweckt Gott „Brudermenschen„, die sich wie das sterbende Weizenkorn ganz in ihre Sendung und Berufung heineingeben. So bleibt das Vertrauen, dass Gott durch die Generationen hindurch zu seinem Ziel kommt und schließlich sein Volk gesammelt wird.

In seinen letzten Lebensjahren lebte Eugen Belz mehr und mehr zurückgezogen mit wenigen Brüdern vom gemeinsamen Leben und doch ganz dem inneren und verborgenen Dienst an der Einheit in Treue zugewandt. Immer wieder – und bis zu seinem Heimgang 1987 – hörte man ihn die Worte Jesu sagen: „Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt!“ (Joh 15,7)

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Der Ökumenische Christusdienst hat – neben der Förderung gegenseitigen Sichkennenlernens – vor allem die bußfertige, schmerzliche Erkenntnis der unter Christen so unheilvollen Spaltungen mit ihren bösen Folgen zu erwecken und gleichzeitig die von Gott gegebenen Heils- und Lebensordnungen aufzuzeigen, durch welche jede ungöttliche Zertrennung innerlich überwunden ist und von dort her auch nach außen hin zur Heilung kommt.
Eugen Belz

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Aus einem Brief an Eugen Belz.

(vom Vorsteher der ledigen Brüder vom gemeinsamen Leben)

Gotthilf Haug

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haugDas Kreuz von Golgatha ist der Mittelpunkt und die Urquelle alles Heils, aller Versöhnung, aller wahren Hilfe, des göttlichen Friedens und der Einheit der Kirche. Ohne dieses Kreuz hätten wir kein Ostern und kein Pfingsten. In ihm ist alle Heilsoffenbarung verankert und verwurzelt. – Außer Johannes, dem Jünger der Gottesliebe, und den schwachen, dienenden, liebenden Frauen, standen die Jünger und Bekannten des Herrn nur von ferne. Die Apostel müssen angesichts des Allerheiligsten des neuen Bundes in den Hintergrund treten. Nur demütige, dienende, echte und reine Liebe kann, darf und muss in unmittelbarer Nähe die Erlösung der Welt schauen und erleben. – Aller Streit um Vorrang, Macht, Lehre, Kirche und selbst um die Einheit der Seinen, verstummt hier. Die in den Tod sinkende Gottesliebe geht leidend, schweigend und sterbend über alles hin, mit ausgebreiteten Armen für alle Welt, ob freundlich oder feindlich, und ewiges Heil erblüht für das ganze Universum. Hier ist die Einheit kein Problem mehr, sie ist einfach da. Das ist nach meiner Erkenntnis oekumenisch. Ob ich irre?

Von dieser Schau aus müssen wir zu einer bewussten Zusammenarbeit kommen. Nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit und eines frommen Eifers, um Einfluss und Leute zu gewinnen für ‘unsere’ Sache. Nein, rein um Jesu Christi willen! Alle Hintergedanken, alle Meinungen, aller Streit, alles einander zu etwas Überzeugenwollen, alles, alles ich, du, ihr oder wir oder sie hört da auf. Kein Lärm der Welt und Zeit, kein Kirchenstreit, kein Problem hat hier mehr Raum. Einheit, die uns bis in die letzten Fasern zusammenbindet und verschmolzen hält, Befreiung und Freiheit, die alles Denken und Wünschen übersteigt, sind unser Teil geworden. Hier ist alles unser: Es sei Paulus oder Kephas, es sei Apollos oder die Welt, es sei das Leben oder der Tod, es sei das Gegenwärtige oder das Zukünftige, alles ist unser, wir aber sind Christi, Christus aber ist Gottes. Von da aus kann Gottes Heiliger Geist uns in alle Wahrheit leiten.

Wie und was und wozu wir dann arbeiten im Weinberg des Herrn, wird deutlich werden. Aber alle Arbeit geschehe immer in der Liebe und in der Einheit, so verschieden unsere Dienste dann auch sein mögen. – Ganz korrekt gesagt ist es dann so, dass nicht wir die Bauenden sind, sondern der Herr selbst baut Jerusalem, wir aber hindern Ihn nicht mehr daran.

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Alles verstehen.

Br. Johannes Junger

Warum all die Gegensätze, Konflikte, dieses Selbstverurteilen unter den Menschen, ja sogar unter den Christen? Gibt es nicht einen hier und heute gangbaren Weg, alles beim anderen zu verstehen? An einem Tag, den ich datieren kann, an einem Ort, den ich beschreiben könnte, fasste ich einen Entschluss. Ich sagte mir: Wenn es diesen Weg gibt, dann fang bei dir selber an und mache es dir zur Aufgabe, bei jedem Menschen alles zu verstehen. Es ging um nichts geringeres, als ein Leben lang immer wieder auf diesen unaufhebbaren Entschluss zurück zu kommen. Eher danach trachten, alles zu verstehen, als selber verstanden zu werden. An jenem Tag war ich überzeugt: Dieser Entschluss würde bis zum Tode gelten…

Wir setzen alles daran, uns die Zerrissenheit des Leibes Christi ständig zu vergegenwärtigen, und für die Christen, die die Spaltung der universellen Kirche als gegeben hinnehmen, einen Keim der Unruhe zu bilden. Um Christi und des Evangeliums willen sind wir berufen, das Bild einer versöhnten Kirche darzustellen. Für die Versöhnung unter den Christen ist es) derzeit am vordringlichsten, sich auf den verborgenen Weg der Versöhnung im eigenen Inneren zu machen. (Roger Schutz)

Auf dem Weg zur einen Bruderschaft Jesu Christi

Zu allen Zeiten gab es Menschen, die die Strömungen der Geschichte zu deuten wussten und mit ihrem ganzen Denken, Leben und Tun auf das Wirken Gottes in ihrer Zeit eine konkrete Antwort suchten.

Im Mittelalter war die Kirche mit ihren Gliedern geprägt von einem das ganze gesellschaftliche Leben umfassenden Einheitsdenken. Man wusste sich eingebunden, getragen und in seinem Handeln herausgefordert von dieser den Glauben und alles menschliche Leben umfassenden Kirche. Ihre Bischöfe und Priester waren zuständig für die Vermittlung des Heils im zeitlichen und ewigen Leben.

Gott selber, der in jeder Zeit größer ist als unser Herz und unser Denken, ließ einzelne Gläubige Neuland entdecken: Sie fühlten sich von Gott als Person, als Individuum, angesprochen. Kirche und Gesellschaft waren für sie selbstverständlich wichtig, aber sie entdeckten im Lesen der Bibel einen neuen, sie als Person ansprechenden weiten Horizont. Schulen und Universitäten wurden als Folge dieses neuen geistigen Horizonts gegründet.

Auch neue geistliche Bewegungen wie z.B. die „devotio moderna“ entstanden. Daraus gingen die „Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben“ hervor. Sie wollten keinen neuen Orden gründen und mit ihrem allgemein gehaltenen Namen eher verdecken, dass sie die Absicht hatten, ein gemeinsames Leben mit Gott und miteinander zu führen. Das bis heute weit verbreitete Büchlein „Nachfolge Christi“ von Thomas a Kempis fasst die von ihnen gelebte Frömmigkeit in dem Satz zusammen: Dass dein ganzes Leben ein zweites Leben Christi sei. Nachfolge hieß für diese Menschen: Nachahmung des Lebens Christi und seiner Jünger. Neu war in dieser Bewegung, dass die Bibel als alleinige Richtschnur galt. Ebenso neu war der Rat: Allein die Liebe und die Vermahnung sollten die Brüder und Schwestern durch das Leben begleiten. Wie unmittelbar diese Menschen ihre Beziehung zu Gott und untereinander verstanden, zeigt folgendes Zitat: Die Brüder und Schwestern pflegten am Abend, sich gegenseitig ihre Fehler zu bekennen, und wenn einer an dem andern Tadelnswertes bemerkt hatte, ihn darauf aufmerksam zu machen. Sie ermahnten sich untereinander liebevoll und freimütig und gehorchten gern besseren Ratschlägen, indem sie demütig ihre Schuld anerkannten und um Verzeihung baten.

Auf die mittelalterliche Kirche mit ihrem Einheitsdenken, die Frömmigkeit der devotio moderna mit ihrer individuellen Nachfolge Christi und die mystische Bewegung (z.B. Meister Eckhart, Seuse, Tauler), die die innige und innerste Verbindung mit Jesus suchte, folgte kirchen- und geistesgeschichtlich die Reformation.

Luther trieb als skrupelhaft angstvollen Mönch der mittelalterlichen Kirche die Frage um: „Wie bekomme i c h einen gnädigen Gott?“ Als Professor der Bibelwissenschaft war er zu der Erkenntnis gekommen, dass der Mensch durch den persönlichen Glauben an Jesus Christus vor Gott gerecht wird. Mit ihm suchten alle Reformatoren nicht mehr die Verbindung mit Christus über die Institution Kirche, sondern über die persönliche Glaubens-Entscheidung zum erhöhten Herrn. Jeder getaufte Christ sollte im allgemeinen Priestertum leben und tätig sein. Alle sollten heranreifen zu einem vollkommenen Menschsein in Christus. Luther dachte aber nicht an eine Trennung von der allgemeinen Kirche. Leider kam es dann doch zur Kirchenspaltung. Möglicherweise hätte sich die neue „Frömmigkeit“ – dieser Fortgang in der Geschichte – nicht verwirklichen lassen, ohne diese Trennung.

Im Laufe der Zeit wurde die persönliche Verbindung des Einzelnen zu Jesus Christus im Pietismus und in den neuen katholischen Bewegungen immer mehr heimisch und mit Leben erfüllt. Herausragende Kennzeichen dieses neuen Bewusstseins von Nachfolge sind die vielen Ich-Frömmigkeits-Lieder und der Einsatz vieler Laien in Diakonie und Mission.

Negativ wirkte sich dann dieser Individualismus aus, als der mündig gewordene Mensch sich immer mehr von Gott und den im Juden- und Christentum überlieferten Werten löste und glaubte, die Weltprobleme selber lösen zu können. Die Gegenreaktionen auf diese Individualisierung waren dann die beherrschenden Ideologien des 20. Jahrhunderts: der Kommunismus und Faschismus. Diese beiden Gesellschafts-Ideologien suchten ein neues „Wir-Gefühl“.

Am Anfang des letzten Jahrhunderts und bis heute befinden wir uns wieder in einer neuen Bewegung der Menschheits-, Geistes- und Frömmigkeitsgeschichte. Immer mehr reift unter allen Völkern, Kulturen und Religionen die Einsicht, dass wir Vernunft und Glauben nicht trennen können.

Aber wir müssen wohl immer noch klarer erkennen, dass zur Voraussetzung für eine menschenwürdige Zukunft gereifte mündige Menschen gehören. Als Christen denken wir an Worte des NT: „herangewachsen zum vollendeten Menschsein“ als Einzelne und Gemeinschaft. Christus-Menschen, Christusträger, prophetisch durchblickende und doch vor Gott demütige Menschen braucht Gott. Sie sind berufen zur Veränderung der Welt.

Es wächst eine Bruderschaft der gereiften Persönlichkeiten verborgen in allen Kirchen und Gemeinschaften. Ehe der Ruf solcher gereiften Christusmenschen gehört und verstanden wird, und ehe die wirkliche „Bruderschaft Jesu Christi“ wirklich wahrgenommen werden kann, haben wir kein Zeugnis, an dem „die Welt“ sich entscheiden muss (vgl. Joh 17,20-26).

Die Herausgeber dieses kleinen „Boten“ rufen wieder einmal in alle Gärungsprozesse unserer Gegenwart hinein, dass es um diese Brudermenschen geht, die die Gesinnung Jesu Christi und seiner Jünger verkörpern (Phil 2,1-11). Ihren unzertrennlichen Bruderbund in der einen Bruderschaft Jesu Christi braucht die Welt dringend.

Wie lange werden wir uns immer noch und immer wieder mit „auch wichtigen“, aber nicht den allerwichtigsten Anliegen des Geistes Jesu Christi beschäftigen und die Zeichen der Zeit verkennen?

Gemeinsames Leben und Vergebung.

Br. Franziskus Joest, Jesusbruderschaft Gnadenthal

[[Pater Josef Kentenich]], der Gründer der Schönstadt–Bewegung, soll einmal gesagt haben: „Gemeinsames Leben ist konzentrierte Erbsünde und konzentrierte Gnade.“

Pater Josef Kentenich
Pater Josef Kentenich

Im gemeinsamen Leben arbeitet Gott an unserer Heiligung. Er zerbricht unsere Ideale, die über uns selbst und die über unsere Gemeinschaft, damit wir ehrlich und unverstellt vor ihm die sind, die wir sind – ein höchst ernüchternder und schmerzlicher Vorgang, aber zugleich ein äußerst befreiender.

Darum ist Vergebung die einzige Quelle, aus der wir gemeinsam leben können. Miteinander leben wir von der Vergebung Jesu, und aus dieser Kraft heraus können und sollen wir auch einander immer wieder im Geist der Vergebung begegnen. Ich brauche das. Aber die anderen brauchen es auch von mir. Eine große Herausforderung, vor allem, wenn es nicht um die kleinen alltäglichen Reibereien geht, sondern um gravierende Dinge, die alle betreffen. Und auch das wäre eine Illusion, zu glauben, durch die Vergebung ließen sich alle Konflikte im Handumdrehen lösen und aus der Welt schaffen. Gebet ist etwas anderes als sofort lösliches Kaffeepulver: umrühren, fertig! Vieles muss getragen werden, manches muss lange getragen werden.

Unsere Gemeinschaft befand und befindet sich in einer solchen Situation, nachdem wir einen Wechsel in der Leitung vollzogen haben. Zunächst ist das ein ganz normaler Vorgang, der sich in allen Lebensbereichen immer wieder vollzieht. Aber zu dieser „Normalität“ scheint es auch zu gehören, dass so etwas nicht ohne Ablöseschmerzen geht. Es kamen äußerst schwierige Umstände hinzu, voller Konfliktpotenzial, und plötzlich wurde manches nach oben gespült an alten oder andauernden Verletzungen, womit niemand so deutlich gerechnet hätte. Einiges war gar nicht so recht greifbar, anderes versuchten wir auszusprechen. Wir erlebten Verunsicherung und Lähmung, aber dennoch auch Hoffnung auf Neuaufbruch.

Wie geht man damit um, wenn plötzlich die ganze Gemeinschaft ins Fragen gerät, wenn nicht nur einzelne einen Konflikt miteinander haben, sondern alle sich fragen müssen: Was ist eigentlich los? Wo kommen wir her, was liegt hinter uns? Wo wollen wir hin? Wie geht es weiter? Was war falsch, was war richtig (und darüber gibt es verschiedene Ansichten und Erfahrungen!)? Gott sei Dank: Während dieser Zeit ist niemand ausgetreten. Keiner hat uns verlassen. Alle standen zusammen, trugen gemeinsam an der Situation und suchten miteinander den weiteren Weg.

Natürlich haben wir auch erfahrene Begleiter von außerhalb unserer Gemeinschaft gesucht. Wen immer wir fragten, die Botschaft war stets dieselbe, und unsere Erfahrung bestätigt sie inzwischen auch: „Habt Geduld, lasst Euch und den anderen Zeit, sucht keine schnelle Lösung, weil das keine ist. Geht gemeinsam und einzeln zu Gott, nicht zu Menschen. Und rechnet damit, dass auch jeder einzelne von Euch unterschiedlich lange braucht, bis er oder sie mit der Lage ins Reine gekommen ist.“ Ein Rat war, die Vergangenheit anzuschauen und sich bewusst zu machen, was wir diesen Jahren an Gutem, an Positivem und Aufbauendem verdanken.

Aber zuvor musste noch ein anderer Schritt gegangen werden: dass wir mit unseren Klagen und Anklagen, aber auch mit unserem eigenen Schuldeingeständnis zu Gott kommen und Ihn darüber anrufen. Die kleine Gruppe unserer „Übergangsleitung“ hat das mit Hilfe einer Schwester vom Schwanberg, die uns darin begleitet hat, vorbereitet. Klagen und Schuldbekenntnisse haben wir in einzelnen Punkten festgehalten und so einen gemeinsamen Bußgottesdienst vorbereitet. Zuvor aber haben wir mit allen Geschwistern die einzelnen Punkte besprochen, damit sie sich schon vorab damit auseinander setzen konnten. Im Gottesdienst selbst wurden die einzelnen Klagen oder Vergebungsbitten vorgetragen mit viel Pausen dazwischen, so dass sich jeder persönlich mit eigenen Bitten anschließen konnte. Unsere beglückende Erfahrung war, dass das plötzlich wie von alleine lief. Alle beteiligten sich und brachten sehr persönliche und bewegende Anliegen zu Gott. Der Heilige Geist hatte uns erfasst, und wir standen als Gemeinschaft in einer einzigen Gebetsbewegung vor Gott.

Danach war etwas anders geworden. Die Luft war wie gereinigt, und wir waren froh. Die Probleme sind damit natürlich nicht alle gelöst, und es kann noch längst nicht alle Bitterkeit ausgeräumt werden. Immer noch gilt es, auszuhalten und durchzutragen, aber sich davon nicht binden zu lassen. Dennoch ist ein wichtiger Schritt gewonnen. Unser nächstes Ziel ist eine Klausur für die ganze Kommunität, bei der wir Gott danken für Seinen Ruf und für alles, was in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gut war.