Mensch – Bruder – Gott

Michael Decker
Gelegentlich stehe ich an einer Bushaltestelle oder sitze im Straßencafé und schaue die Menschen an, die um mich herum sind. „Welche Vielfalt, welche Originalität!“ denke ich dann oft. Senioren machen übermütigen Schulkindern Platz. Geschäftsleute eilen mit angespannten Schultern vorbei. Ich sehe zerfurchte Gesichter und unruhige Augen. In der Praxis des Arztes wartet mir gegenüber ein türkisches Ehepaar mit ernster Miene. Daneben unterhalten sich zwei junge Frauen auf russisch; während ich mich wundere, wie schnell die fremden, mir hart klingenden Silben über ihre Lippen kommen, wechselt die Sprache nahtlos ins Deutsche, als ihr Handy klingelt. „Vater im Himmel, du kennst jeden Namen, jede Lebensgeschichte, jedes Herz…„, spricht es in mir. „Du liebst sie alle!“ – Ein junger Mann, völlig schwarz gekleidet mit vielen Ringen an Ohren und Fingern schreitet vorbei. „Herr, den auch?“ Eine ältere Frau in abgetragenem Mantel mit ausgebeulten Plastiktüten steht müde vor einem Schaufenster. „Herr, sie auch?“ – Die Antwort ist eindeutig: „Auch die und den… auch dich!

Manchmal denke ich daran, wie Jesus an verschiedenen Orten verweilte und den Menschen zusah. Einmal saß er im Tempel und beobachtete, wie die Besucher Geld in die Opferkästen warfen. Viele wohlhabende Leute gaben großzügig. Als eine arme Witwe kam und zwei kleine Kupfermünzen hinein steckte, rief Jesus seinen Jüngern zu: „Ich bin mir sicher: Diese arme Witwe hat mehr gegeben als alle anderen…“ vgl. Mk 12,41ff.

Ein anderes Mal stand Jesus am Ölberg und sah hinüber auf die Stadt Jerusalem. Da begann er zu weinen und sagte: „Wenn doch auch du heute erkannt hättest, was dir Frieden bringt! Aber Gott hat dich blind dafür gemacht. Du hast den Tag nicht erkannt, an dem Gott dir zu Hilfe kommen wollte„vgl. Lk 19,41f.

Jesus sah den Menschen ins Angesicht. An ihren Augen und Gesten oder aus ihren Worten im Stimmengewirr der Gassen von Jerusalem erkannte er, was in ihnen vorging. Er kannte das menschliche Herz bis auf den Grund, und niemand brauchte ihm etwas über die Menschen zu sagen. vgl. Joh 2,25.

Auch die Jünger hatte Jesus zuvor mit den Augen der Liebe und mit dem verstehenden Blick seines Herzens gesehen: Als er am See von Genezareth entlangging, beobachtete er zwei Brüder, Simon und Andreas. Sie waren Fischer und warfen gerade ihr Netz aus. Als Jesus sie aufforderte, ihm zu folgen, ließen sie sofort ihre Netze liegen und gingen mit ihm vgl. Mt 4,18.

Wahrer Gottes-Mensch

Jesus war so geistesgegenwärtig, dass er – ob mit Worten oder einfach durch seine Anwesenheit – jeden in die Nähe Gottes brachte. „So, wie Jesus ist, muss Gott sein„, erkannten Viele, „so treu und so streng, so hinreißend und so barmherzig, so, dass es das Herz berührt und auf die Knie zwingt.“ Die Jünger erfuhren es zuerst, dass Gott nicht Gedanke oder frommer Wunsch ist, sondern faszinierende Gegenwart, die das Herz klopfen lässt und die Menschen süchtig macht nach mehr, so dass sie Jesus folgen konnten, ohne den Eltern Adieu zu sagen (vgl. K.Berger, Jesus, S.65).

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Jesus lebte durchdrungen vom Geist seines himmlischen Vaters. Er war und blieb bis zuletzt der hörende und getreue Sohn. Das Zutrauen in die Güte Gottes, in das Wohlwollen und die guten Absichten seines Vaters ließ er sich zu keiner Zeit nehmen. Weder die Konflikte, weder das Verkanntwerden, noch die Einsamkeit und zuletzt sein Leiden konnten Zweifel oder Rebellion in sein Herz bringen. Jesus blieb darin gewiss, dass er als Sohn seines himmlischen Vaters immer Anteil haben würde am unzerstörbaren, unverweslichen und ewigen Leben.

Viele wunderten sich über die Freiheit und Leichtigkeit, die von Jesus ausging. Für ihn war die Nähe zu Gott die selbstverständlichste und einfachste Wirklichkeit. Es lässt sich keine engere Verwandtschaft, keine größere Ähnlichkeit, keine engere Beziehung beschreiben als die, die dieser Sohn zu seinem Vater hat. Wenn die Evangelien vom „Sohn Gottes“ sprechen, so bezeugen sie mit diesem Titel zuerst diese enge Vertrautheit. Wo der Vater sich bei der Taufe und Verklärung zu Jesus bekennt, nennt er ihn seinen „lieben Sohn“. Ihn sollen alle, die ihm folgen, hören und anschauen, damit auch sie in diese Freiheit der Kinder Gottes kommen.

Wer Gott nahe steht, stößt aber auf Widerstände bei Menschen und Mächten. Die Gott widersprechen und ablehnen, wenden sich auch gegen die, die seine Nähe suchen und haben. Jesus musste leiden, weil seine religiösen und machthabenden Zeitgenossen die Gotteskraft in ihm nicht sehen und annehmen wollten. Jesus nahm diese Leiden auf sich aus Liebe zum Vater und zu den Menschen. Er ließ sich zum Leiden bestimmen, weil er seine Sohnschaft nicht verleugnen und verlieren konnte. Widerstände und Leiden erfahren auch diejenigen, die sich in seine Geistesgegenwart ziehen lassen.

Wirklicher Menschen-Sohn

Gott gibt denen, die ihn suchen und lieben, das ewige Leben. Dieses Leben bringt der Sohn. Der Sohn ist das ewige Leben für die Menschen, die – wie der Apostel Paulus oftmals schreibt – in Christus leben und sterben.
vgl. Röm 8,91Kor 1,302Kor 5,17 u.a.

Jesus ist die Gnadengabe des Lebens, die der Vater seiner Schöpfung schenkt: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn errettet werde„.Joh 3,16f. Diese Worte des Evangeliums gehören zum Urfundament des christlichen Glaubens. Sie können nie genug bedacht und im Herzen bewegt werden. Sie wecken lebenslang den immer freudigeren Dank über das eigentliche Geheimnis Gottes. Sie lassen immerzu darüber staunen, dass Gott die Welt so sehr liebt, dass er in seinem Sohn wahrer und ganzer Mensch wurde. Keine andere Religion kennt Gott so, wie der Sohn ihn uns gezeigt und uns durch sein eigenes Leben nahe gebracht hat.

Es ist für mich daher ganz unverständlich, dass ein niederländischer katholischer Bischof vorschlägt, dass jeder sich auf Gott als Allah beziehen sollte: „Wenn Muslime und Christen Gott mit dem gleichen Namen anreden, trägt das zum harmonischen Miteinanderleben beider Religionen bei,“ meint er (aus: Hier in Israel 10/2007). Aber warum fällt es Menschen so schwer,den Vater Jesu Christi zu glauben und sich an ihn zu wenden? Das Ärgernis liegt für viele darin, dass sie die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus nicht annehmen wollen. Schon Johannes beginnt sein Evangelium deshalb mit einer Klage: „Er war in der Welt; die Welt entstand durch ihn, doch sie wies ihn ab. Er kam in die Welt, die durch ihn geworden und deshalb sein eigen war, doch seine eigenen Menschen nahmen ihn nicht an…“ Joh 1,10f. Bis heute scheiden sich die Anschauungen und Geister an diesem Glauben: Jesus Christus hatte Gottes Gestalt; er verzichtete auf sein Vorrecht und wurde wie wir Menschen; er führte ein Leben wie wir und gehorchte seiner Sendung bis zum Tod am Kreuz vgl. Phil 2,6ff. Für den Verstand bleibt es ein unbegreiflicher Vorgang, dass der „ewigreiche Gott im höchsten Himmelsthrone“ in dieser Welt vom Kreuz herab regiert.

Nach aller Einsicht, die der Heilige Geist der Christenheit geschenkt hat, wählte Gott den Weg, den das menschliche Wesen am meisten fürchtet und verachtet: den untersten Weg. Nur ein leidender Gott, der die Tiefen der Verlassenheit und Ohnmacht selbst durchschmerzt, kann den Menschen aus seinen Abgründen heimsuchen und erlösen. Um seine Liebe glaubwürdig zu erweisen, wurde er der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg vgl. Jes 53,3. So ist der Gottes-Sohn wirklicher Menschen -Sohn geworden, um uns der Nähe des Vaters gewiss zu machen.

Erfüllte Bruderschaft

In den Evangelien bezeichnet sich Jesus selbst oft als „Menschensohn“ und meint damit zunächst einfach so viel wie „Mensch“. Einmal sagt er: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ Mt 8,20. Einerseits verbirgt Jesus damit das Geheimnis seiner ewigen Herkunft, um nicht vor der Zeit Anstoß und Widerstand zu erregen. Andererseits ermöglicht er denen, die ihn mit den Sinnen des Glaubens immer deutlicher erkennen, den Zugang zu seiner Sendung. Je mehr die Jünger und viele andere Jesus kennen und lieben lernen, umso mehr entdecken sie sein intimes und unerschütterliches Verhältnis zum Vater. Ihnen öffnet sich im Menschensohn immer mehr die Haltung des Menschen, wie Gott ihn haben möchte und ersehnt. „Im Menschensohn wird der Mensch offenbar, wie er eigentlich sein sollte… Im Rätselwort vom Menschensohn begegnet uns ganz dicht das Ureigene der Gestalt Jesu, seiner Sendung und seines Seins. Er kommt von Gott her, er ist Gott. Aber gerade so bringt er – im Annehmen des Menschseins – die wahre Menschlichkeit… und stiftet so das wahre Menschsein“ (vgl. J.Ratzinger, Jesus von Nazareth, S. 374-384).

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Paulus greift diese Stiftung im Brief an die Römer auf: „Alles hilft den Christen, die Gott lieben können, zum Guten. Sie sind die Erwählten und Berufenen. Die Christen sind Gottes Wunschkinder, und von Anfang an möchte er, dass sie genauso werden wie sein erstgeborener Sohn, damit dieser viele Geschwister bekommt“ (Übers. n.K.Berger) Röm 8,28f

Jesus hat diese Geschwisterschaft immer gesucht. Er schämte sich nicht, seine Jünger und alle Männer und Frauen, die an seine Sendung glaubten, „Brüder zu heißen“ Hebr 2,11. Sie bildeten über seinen Tod hinaus eine Liebes- und Lebensgemeinschaft und viele wurden ihm bald auch in seinen Leiden gleich.

Das Umfassende dieser Bruderschaft war im Jüngerkreis schon vorgezeichnet. Nach Pfingsten geht sie über alle geografischen und sozialen Grenzen hinaus. Alle Menschen-Brüder sind eingeladen, zu Bruder-Menschen nach der Art Christi zu werden , bis die ganze Menschheit wie ein Sauerteig durchdrungen ist.

In der Taufe, die die Christenheit im Namen des dreieinigen Gottes vollzieht, liegt die Geburtsstunde dieses neuen Menschen. Es hat darum nichts mehr zu sagen, ob jemand Jude ist oder Nichtjude, ob im Sklavenstand oder frei, ob Mann oder Frau. In Jesus Christus sind alle ein neuer Mensch geworden vgl. Gal 3,28.

Ich sitze in Gedanken noch einmal im Straßencafé oder im Wartezimmer des Arztes. Ich sehe die Vielfalt und Originalität der Menschen und suche das Gespräch mit dem geistesgegenwärtigen Christus: „Herr, du sahst die Jünger am See Genezareth und die Leute von Jerusalem…, du achtest auch auf die Leute, die hier und jetzt leben. Erwecke ihr Herz! Öffne ihnen Augen und Ohren, dass sie dich suchen und finden! Lass sie dich als den wahren Bruder erkennen, den Gottes- und Menschensohn, damit wir alle zu Brüdern und Schwestern nach deiner Art werden – zu unserem Heil und zur Freude und Ehre des Vaters im Himmel.