Sr. Dorothea Vosgerau

Was ist es, das uns im Kern unserer Person frei oder unfrei macht, das heimlich in uns Regie ergreift und die Wirkung unserer gut gemeinten Handlungen beeinflusst oder gar verkehrt? Vielleicht halten wir uns für freier und unabhängiger als wir wirklich sind.
Gewöhnlich messen wir unsere Freiheit an äußeren Lebensumständen. Wer mobil ist, wer genug verdient und sich gut versorgt, wer unterschiedliche Anschauungen äußern oder wahrnehmen kann, erlebt sich meistens freier als jemand, der diese Möglichkeiten nicht hat. Die Fragestellung, die [[Martin Luther]] in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ behandelt, berührt eine andere Ebene. Ihm geht es um die Freiheit/ Unfreiheit, die in unserer Person selbst begründet liegt und unser Leben von innen her prägt. Unfrei werden wir nicht gemacht – wir sind es, oft ohne es zu merken und zu wollen.


Folgendes Bild trifft den Kern der so verstandenen Unfreiheit: „Unser Ego verhält sich wie die Wurzeln eines Pilzgeflechts, das alle Akte unseres Lebens durchdringt, um sich daraus selbst zu nähren“ (Sr. Anna-Franziska, Sießen).
Ich beobachte oft an mir selbst und anderen folgende Haltungen: Dass wir ein schwieriges Gespräch als gelungen betrachten, wenn es möglich war, den Gesprächspartner für uns zu gewinnen. Oder dass uns scheint, ein Tag sei gut verlaufen, wenn wir möglichst viel erledigen konnten, also erfolgreich waren. Oder dass wir uns über die Wirksamkeit des Gebets freuen, wenn unsere Anliegen wunschgemäß erfüllt wurden.
Die Liste wäre noch beliebig fortzusetzen. Sie markiert unser Grundproblem, das auch in unser „frommes“ Leben hineinregiert: Dass wir eben nicht Herren, sondern Knechte unserer selbst sind. Es geht uns, auch in den vermeintlich guten Dingen, doch sehr oft um uns selbst. Und damit ist unsere Unfähigkeit verbunden, die Wirklichkeit wahrzunehmen wie sie ist. Wichtig scheint, was für jeden persönlich von Bedeutung ist. Und wie wir die Situation beurteilen und darauf reagieren, hängt oft genug mit eigenem Wunschdenken zusammen.
Jesus reagiert auf diese Haltung mit klaren Worten. Er verkündet zu Beginn seiner Predigt: Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium! (Mk 1,15) Ohne Befreiung aus unserer Selbstbezogenheit können wir die Herrschaft Gottes in unserem Leben, in unserem Umfeld und in der Weltgeschichte nicht wahrnehmen. Umkehr ist nötig, damit Gott uns in seine Anliegen einbeziehen kann.

„Fröhlicher Wechsel“

Mit der Taufe ist der Kreislauf der Selbstbezogenheit grundsätzlich durchbrochen. Der Platz, den unser Ego beansprucht, steht Gott zu. Ihm diesen Platz auch tatsächlich einzuräumen, bedarf in unserem Alltag immer neuer, bewusster Vollzüge. Dabei geht es nicht darum, immer neu gute Vorsätze zu fassen. Als der Engel Maria die Botschaft überbrachte, verpflichtete sie sich nicht zu einer bestimmten Tat. Sie überließ sich dem Geschehen der Gnade. Es gilt, einen Sprung zu wagen – heraus aus den eigenen Ängsten, Berechnungen, Erfahrungen und Strategien hinein in die Wirklichkeit und Wirkmacht Gottes. Mit anderen Worten: Es gilt zu glauben. Luther beschreibt diesen Vorgang mit dem schönen Bild der Vermählung zwischen Christus und der Seele und spricht von dem „fröhlichen Wechsel“. In seinem Opfertod am Kreuz hat Christus sich unsere Schuld zu eigen gemacht und uns aus aller Selbstbezogenheit erlöst. Und umgekehrt eignet er uns seine „Güter“, seine Liebe und Wahrheit, zu. Jedes Gebet, jede Beschäftigung mit dem Wort Gottes, jeder Gottesdienst und in besonderer Weise jede Mahlfeier lädt uns ein, uns auf Gott hin zu öffnen. Es ist ein Geschehen, das immer auch die Beziehungen zu den Menschen und zu unserem ganzen Umfeld neu ordnet.

„..durch den Glauben müssen auch alle Könige und Priester sein mit Christo…“

Wenn der Apostel Petrus vom königlichen Priestertum (1Petr 2,9) spricht, geht es ihm dabei um eine neue – befreite – Existenzweise. Denn die Befreiung ist eine Tatsache, die im Leben immer neu eingeübt werden will. Es gilt für uns, in ihr heimisch zu werden.

Inmitten widriger Umstände königlich frei zu leben – mögen es schwierige menschliche Beziehungen, Krankheiten, Kriegs- oder Verfolgungssituationen o.ä. sein – dafür gibt es in der Kirchengeschichte bis heute unzählige leuchtende Lebenszeugnisse. Es sind Menschen, die durch viele Kämpfe hindurch gelernt haben, der Verheißung Gottes mehr zu trauen, als sich von den eigenen Ängsten lähmen zu lassen. So haben sie mehr und mehr die Wirklichkeit eingenommen, die Paulus beschreibt (1Kor 3,21): Alles ist euer, ihr aber seid Christi.
Mit dem Begriff „Priestertum“ benennt Petrus die Grundberufung aller Christen, dem neu geschenkten Sinn unseres Daseins: Ein Priester vermittelt die Heilstaten Gottes. Menschen, die das Heilswirken Gottes für andere glaubend festhalten, die betend und segnend für sie eintreten, durchbrechen die Gefangenschaft ihrer eigenen Bedürfnisse. Sie geben den Absichten Gottes mit dieser Welt in ihrem Leben, Denken und Handeln Raum.
Was sich in unserem Leben immer nur bruchstückhaft ereignet, hat Jesus vollkommen gelebt. Sein Verwurzeltsein im Vater gab ihm die Freiheit, sein Leben zu geben. Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, um es wiederzunehmen. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es freiwillig (Joh 10,18). Um Eigenes loszulassen, sind oft schmerzliche Lebensprozesse nötig. Sie werden weder aus heldenhafter Stärke noch aus Resignation genährt. Ihre innere Kraft liegt in der Freiheit, die sich an Gott gebunden hat. Diese Freiheit befähigt uns, allen und in allem zu „Knechten“ zu werden, d.h. zu Helfern jenes Lebens, das Gott für uns alle bereithält.
[[Martin Luther]] drückt das Geheimnis christlicher Freiheit mit dem bekannten Paradox aus:
Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. — Und: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.
Als Christen stehen wir in einer Sendung, die unser persönliches Leben weit übersteigt. Wir sind Teil der einen Kirche, die gerufen ist, Christus zu bezeugen, ihm den Weg zu bereiten und ihm entgegen zu gehen. Auch in unseren Gemeinschaften und Kirchen ist es nötig, die christliche Freiheit einzuüben – statt an unserem Profil zu arbeiten, uns ihm zu öffnen, der überall wirkt. Dabei lassen wir uns in unsere je eigene Berufung einfügen an den Ort, wo er uns braucht, dankbar für all die anderen und im Herzen mit ihnen verbunden.