„Ach Herr, wir haben gesündigt, wir sind gottlos gewesen. Wende ab deinen Zorn und Grimm von deiner Stadt Jerusalem und deinem heiligen Berg. Denn wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter tragen Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen. Und nun, unser Gott, höre das Gebet deines Knechtes und sein Flehen. Lass leuchten dein Angesicht über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Herr! Denn wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit“ (Dan 9,15-19).

In diesem schon einige Jahrzehnte alten Text wird uns ein tiefer Glaube vor Augen geführt. Die Spannung zwischen dem, was Gott sich mit der Kirche gedacht hat, und dem, was aus ihr geworden ist, ist manchmal kaum zu ertragen. Aber niemand von uns kann sich über die Kirche erheben; wir sind ja selber Teil von ihr. Bei Daniel, Esra und Nehemia finden wir Beispiele für eine hilfreiche doppelte Identifikation: diejenige mit der Kirche, wie sie ist, und diejenige mit Gottes Absicht. Das führt unweigerlich zur Buße.

Es gab Zeitpunkte in der Geschichte des alten Bundesvolkes, in denen zwar nur das Auge des Glaubens die gnädige Hand Gottes erkennen konnte, in denen aber dennoch die göttliche Liebe und Treue über dem auserwählten Volk walteten. Ein solcher Zeitpunkt war gekommen, als der Tempel in Trümmern lag, die heilige Stadt von Feinden zertreten war und die Kinder Gottes in der babylonischen Gefangenschaft seufzten. 

Ähnliches erleben wir heute in der christlichen Kirche. Wie groß auch der jetzige Verfall des geistlichen Tempels des Neuen Bundes sein mag und wie sehr wir Grund haben, in dem allgemeinen kirchlichen Verfall Gottes Züchtigung zu sehen, so wird doch nur der Unglaube dem Gedanken Raum geben können, dass der Herr seine Kirche verlassen habe. Ein solcher Gedanke widerspräche nicht nur den ausdrücklichen Verheißungen aus des Herrn eigenem Mund (Mt 16,18; 28,20). Auch im prophetischen Wort des Alten Bundes, in dem der Heilige Geist, anknüpfend an die Lage des leiblichen Israels, die zukünftigen Verderbnisse des geistlichen Israels, der Kirche, im Voraus beschrieb, hat Gott uns wunderbare Versicherungen seiner unerschütterlichen Treue und Liebe gegeben. 

Ruf zur Buße und Umkehr

Und so können wir keinen Augenblick daran zweifeln, dass er mit allen Plagen und Gerichten, mit denen er uns heimsucht, keinen anderen Zweck verfolgt, als seine Kinder zur Buße und zur Umkehr zu bringen (Hes 33,11), damit er sein Vaterherz wieder aufschließen und uns von Neuem mit seiner Güte sättigen kann.

Es ist nicht nur möglich, den vollen und freudigen Glauben an die Gegenwart des Herrn in seiner Kirche und die aufrichtigste Verehrung für alle in der Christenheit übriggebliebenen göttlichen Ordnungen mit wahrer Erleuchtung und göttlicher Trauer über den großen kirchlichen Verfall unserer Tage zu vereinigen. Sondern nur in diesen scheinbaren Widersprüchen ist die volle Wahrheit enthalten. 

Nur der, der in der jetzigen Christenheit den Tempel, das Bethaus, das Gott am Anfang baute, und die Mördergrube, die die Menschen daraus gemacht haben, sehen kann, hat den wahren Zustand der Kirche erkannt. 

Umfassende und stellvertretende Buße

Als Daniel sich aufmachte, mit Fasten in Sack und Asche zu Gott dem Herrn zu beten und zu flehen, da waren es nicht die Sünden, die er als einzelner Mensch vielleicht begangen hatte, die seine Seele so tief betrübten und deren Last ihn in den Staub vor Gott beugte. Gewiss war er ein von Herzen demütiger und reumütiger Mensch, und gerade weil er ein solcher war, konnte Gott ihm die Gnade verleihen, dass er die gemeinsame Schuld fühlen und vor Gott bekennen konnte. Diese gemeinsame Schuld war es, die Daniel als seine eigene empfand. 1  Auch war es ihm nicht genug, nur die Schuld seiner damaligen Generation zu bekennen. Sondern im Bewusstsein der Einheit des Bundesvolkes von Anfang an spricht er: „Ja Herr, wir und unsere Väter, wir alle müssen uns schämen, dass wir uns an dir versündigt haben.“

Solche Buße, wie wir sie bei Daniel und auch bei Esra und Nehemia (Esra 9; Neh 1,4ff; 9) finden, sucht Gott heutzutage in uns, und das erste Verlangen aller treuen Christen sollte sein, dass Gott in ihnen eine solche Buße bewirken möge. Denn auf eine solche Buße wartet der Herr, um sich seiner Kirche zu erbarmen. Nur in dem Maße, in dem die vorhandene Schuld erkannt und bekannt wird, kann Gott helfen, wobei auch schon diese Erkenntnis selbst seine erste Hilfe ist. Aber sie muss da sein! 

Für alle Getauften von Anfang an

Soll es mit der Kirche anders und besser werden, so muss in uns eine gründliche Erleuchtung über die Sünden der Gesamtheit der Getauften von Anfang an gewirkt werden. Wir müssen lernen, diese Sünden als die unsrigen zu fühlen und anzunehmen, darüber vor Gott Leid zu tragen, unter ihrer Last zu seufzen und nicht aufzuhören, diese unser aller Not vor dem lebendigen Gott zu beklagen. Wir beten darum, dass Gott solche Buße bewirken möge, denn er allein kann sie zustande bringen. Er allein kann uns Gnade geben, frei zu werden von allem parteiischen und sektiererischen Wesen, so dass wir bei allen Spaltungen in der Christenheit doch zugleich die Einheit des Volkes Gottes erkennen und glauben – jene Einheit, die Gott von Anfang an durch die eine Taufe gewirkt hat. 

Erst dann, wenn wir uns eins wissen mit der gesamten Christenheit kraft des einen göttlichen Lebens, können wir die Sünden, die von Anfang an begangen worden sind, als unsere Sünden erkennen, fühlen, annehmen und vor Gott bekennen (vgl. 1Kor 12,26; Gal 6,2). Erst dann werden wir damit aufhören, die Brüder und Schwestern anzuklagen und uns selbst zu rechtfertigen. Erst dann werden wir lernen, die Schuld der Kirche nicht bloß in dieser oder jener Konfession, sondern in allen, und nicht bloß in unserer Generation, sondern auch in den Generationen, die uns vorangegangen sind, zu sehen. Und wenn Gott unser Herz so erweitert und uns ein solches Bewusstsein der Einheit seines Volkes vom ersten Pfingsttag an bis heute gibt, dann wird uns auch die gemeinsame Schuld klar werden. Uns werden die Herzen dafür geöffnet, dass wir die Wiederkunft Christi nicht geliebt, uns nicht danach gesehnt, die Reinigung und Vorbereitung bei ihm nicht gesucht, die erste Liebe nicht bewahrt haben, sondern müde geworden sind im Kampf des Glaubens; dass wir die Welt lieb gewonnen und zu buhlen begonnen haben mit den Mächtigen und Großen dieser Erde; dass wir nicht in der Wahrheit geblieben sind und menschliche Einrichtungen und Ordnungen anstelle der ursprünglichen göttlichen aufgerichtet haben. 

In alledem und in noch viel mehr, das Gottes Auge in uns sieht, werden wir den Grund dafür erkennen, warum wir so tief gesunken sind, warum aus der einen heiligen Kirche Gottes die jetzige Christenheit geworden ist. Eine solche umfassende Buße, wenn sie auch zunächst nur in Einzelnen gewirkt wird, ist der Anfang wahrer Kirchenverbesserung.

Vorausgehendes Gebet

Aus dem biblischen Zeugnis lernen wir auch, dass Daniel mit seinem Gebet nicht wartete, bis das gesamte Volk sich zu Gott bekehrte. Sobald er aus Gottes Wort Licht erhalten hatte, wandte er sich zu Gott dem Herrn, um fürbittend und fürbüßend zu beten und zu flehen in Sack und Asche. Sein Gebet, wenn auch zunächst nur das eines einzelnen Menschen, ging hervor aus einem Herzen, das Gott so zubereitet hatte, dass alles Gute, das sich im ganzen Volk regte, durch Daniels Mund ausgesprochen werden konnte. Gott hatte in ihm ein Werkzeug gefunden, durch das stellvertretend das bußfertige Flehen seines Volkes zu ihm emporsteigen konnte. Und Gott stand so bereit, einem solchen Gebet Gehör zu schenken, dass, wie wir wenige Verse später in Dan 9,23 erfahren, schon zu Beginn dieses Gebets der göttliche Befehl an den Engel ergangen war, Daniel die Antwort des Herrn zu bringen.

So wäre ohne Zweifel heutzutage vieles erreicht, wenn Gott in der Christenheit solche fände, in deren Herzen er eine Buße wie die Daniels wirken könnte. 2  Und wenn eine wirkliche Kirchenverbesserung eintreten soll, dann haben wir ebenso die Wahrheit zu beherzigen, dass eine solche Buße mit dem Glauben verbunden sein muss, dass der lebendige Gott Gebete erhört.

Wir dürfen glauben, dass der auferstandene Herr zur Rechten des Vaters lebt, dass sein Geist nach wie vor unter uns ist, dass nur der Herr seiner Kirche helfen kann und dass seine heutigen Wege in seinem Heiligtum mit denen übereinstimmen, die er im Anfang offenbarte. 3

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