Wie war dein Urlaub? Wenn wir uns nach Ferienzeiten im Kollegium unserer Schule wieder begegnen, gibt es oft angeregte Unterhaltungen. Lebhaft werden Erlebnisse und Eindrücke ausgetauscht. Was der oder die Einzelne für erzählenswert, für besonders schön oder auch besonders ärgerlich hält, ist allerdings sehr unterschiedlich. Während für die einen das Wetter eine große Rolle spielt, waren andere mit durchwachsenem Wetter ganz zufrieden. Manche berichten von beeindruckenden Bauwerken, andere eher von Begegnungen mit Menschen. Die einen empfanden den Service im Hotel mangelhaft, andere waren begeistert von ihrer einfachen Unterkunft.
Was wir von der Wirklichkeit aufnehmen, hängt nicht allein von unseren physischen Wahrnehmungsfähigkeiten ab. Es kommt auf die Perspektive an, die jemand einnimmt. Je nach Charakter oder Gestimmtheit bewerten Menschen Gesehenes, Gehörtes oder Erlebtes tendenziell positiv oder eher skeptisch. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Weise ihrer Wahrnehmung.

Entscheidend ist also nicht nur, was wir sehen, sondern vor allem, wie wir sehen.

“Seht hin!” – Wie sehen wir?

In den Altarräumen vieler Kirchen findet man neben der Heiligen Schrift Kerzen. Das scheint mir ein wichtiger Hinweis zu sein. Im Wort Gottes teilt uns Gott seine Wirklichkeit mit. Um sie aufzunehmen, greifen unsere gewohnten Perspektiven zu kurz. Wir brauchen Licht,

das unsere inneren Augen erleuchtet und unsere Herzen erfasst. Das Kerzenlicht ist Symbol für den Heiligen Geist. Jesus bezeugt von ihm, dass er in alle Wahrheit leitet. Der Heilige Geist vermag es, die Liebe Gottes in unserem Inneren wirksam zu machen. So macht er uns fähig, die Wirklichkeit in und um uns mit neuen Augen und Ohren wahrzunehmen.

“Seht hin!” – Der Messias!

Der Evangelist Lukas berichtet im vierten Kapitel von Jesu erster öffentlicher Rede in Nazareth. Vorausgegangen waren seine Taufe und Versuchung. Das Auftreten Jesu wirkt hier provozierend und anstößig. Mir scheint es die Einladung zu sein, sich auf eine neue Perspektive einzulassen, auf eine Perspektive, die aus der Wirklichkeit Gottes erwächst.

So kam er auch nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen, reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt:

Der Geist des Herrn ruht auf mir; / denn der Herr hat mich gesalbt.
Er hat mich gesandt, / damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde / und den Blinden das Augenlicht;
damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.

Dann schloss er das Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt. Seine Rede fand bei allen Beifall; sie staunten darüber, wie begnadet er redete, und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs? Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat! Und er setzte hinzu: Amen, das sage ich euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt. Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das Land kam. Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon. Und viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman.
Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen. Er aber schritt mitten durch die Menge hindurch und ging weg (Lk 4, 16-30; Einheitsübersetzung).
Jesus wird die Schriftrolle gereicht. Das ist Brauch. Jeder erwachsene männliche Gottesdienstbesucher kann dazu aufgefordert werden. Der Schrifttext ist auf die Gottesdienste im Jahresverlauf verteilt. Somit ist die aktuelle Textstelle vorgegeben.

An dem Tag, an dem Jesus zur Lesung aufgefordert wird, fallen ihm die Verse aus dem Jesaja-Buch zu. Für die Zuhörer war klar: Diese Verse sind Worte des Messias. An der Stelle wird deutlich, dass in der Geschichte verschiedene Ebenen wirksam sind. Hinter dem offensichtlichen Geschehen, in dem die Synagogenbesucher einerseits und Jesus andererseits als die Akteure erscheinen, gibt es noch ein eher verborgenes Geschehen, eine höhere Regie. Der eigentliche Akteur ist Gott selbst. Er stellt seinem Volk den Gesalbten vor: Jesus, auf dem der Geist des Herrn ruht. Das erinnert an die Worte bei seiner Taufe: Dies ist mein geliebter Sohn. Gott stellt sich zu Jesus, bestätigt seine göttliche Sendung. Was für ein atemberaubender Moment für die Zuhörer! Der durch Jahrhunderte hindurch erwartete und ersehnte Messias sollte hier in ihrer Mitte stehen?! In ihm wäre die Gnade Gottes gegenwärtig. Das, was keinen Lebensraum hat, würde durch ihn seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt werden. Das Heil würde anbrechen. Und Jesus bestätigt seine Sendung mit den Worten: Heute hat sich das Schriftwort … erfüllt. Die Menschen stimmen begeistert zu. Sie haben schon von seinen großen Taten gehört. Die messianische Zeit bricht in ihrer Heimatstadt an!

Aber sofort melden sich auch Zweifel: Ist das nicht der Sohn Josefs? Ist dieser Jesus nicht der Zimmermannssohn, der unter ihnen gelebt hat, der mit ihren Kindern in der Synagoge gelernt und auf der Straße gespielt hat? Ihr gewohntes Lebensumfeld und der von Gott gesandte Messias – kann das so eng ineinander verwoben sein? Sie erwarten doch Außergewöhnliches, etwas, das den Alltag weit überholt, etwas ganz Neues. Offensichtlich entspricht diese Art der Messias-Erwartung nicht dem Evangelium, das Jesus verkündigt. Statt die Zustimmung zu seiner Sendung zu verstärken, greift er den Zweifel auf, verschärft ihn und führt damit unweigerlich einen Konflikt herbei.

“Seht hin!” – Gott im Verborgenen

Was ist das Anstößige, das die Stimmung plötzlich so kippen lässt? Hinter der begeisterten Zustimmung verbirgt sich ein Anspruch der Zuhörer: Wenn der Messias aus ihrer Stadt kommt, dann soll er sich auch hier als Messias erweisen. Sie erwarten Wunder. Er soll ihren Alltag durchbrechen. Er soll Leid und Not beenden. Die Macht Gottes soll bei ihnen für alle sichtbar werden.
Jesus weist hier mit den Beispielen aus der Geschichte Israels von der Witwe aus Sarepta und dem Aussätzigen Naaman in eine ganz andere Richtung: Es sind nicht Massen, sondern einzelne Menschen, an denen sich, unbemerkt von der Öffentlichkeit, Wunder Gottes ereignen. Jesus stellt sich selbst in die Reihe der Gesandten Gottes, die nicht eigenmächtig, sondern zu der Zeit und an dem Ort wirken, die Gott sie heißt. Damit verweigert er sich dem Anspruch eines Wundertäters. Noch mehr: Er bringt zum Ausdruck, dass diese Erwartungshaltung blind macht für das Handeln Gottes. Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt. Das ist ärgerlich. Denn es stellt die Menschen und ihre Vorstellungen von Gott in Frage. Ich ahne etwas von der Empörung, die die Menschen damals ergriffen haben mag. Hatten sie nicht durch Generationen hindurch an der Überlieferung der Väter festgehalten, viele Nachteile in Kauf genommen, die Gebote trotz widriger Umstände eingehalten?! War nicht der verheißene Messias ihre einzige Hoffnung?

Mir scheint, auch wir als Einzelne, Gemeinschaften und Kirchen sind immer wieder einer ähnlichen Provokation ausgesetzt: Gott handelt ganz anders, als wir es uns vorgestellt haben. Er scheint sich zu entziehen und uns in unseren redlichen Bemühungen und guten Aktivitäten alleine zu lassen.

Und doch verbirgt sich unter Jesu Verweigerung frohe Botschaft. In der Verneinung steckt die positive Aussage: … zu einer Witwe … wurde Elija gesandt. Was da im Kleinen und Unscheinbaren geschieht, ist die gleiche Gnade Gottes, die einmal für den gesamten Erdkreis offenbar werden wird. Mir scheint, dass Lukas mit seinem Bericht am Anfang des Evangeliums bereits auf die ganze Sendung Jesu hinweist. Es ist nicht die Sendung eines strahlenden Helden, sondern des leidenden Gottesknechtes. Das ist anstößig; und zugleich öffnet sich dem, der sich darauf einlässt, erst die Tiefe der Erlösung: Gott überspringt nicht unseren Alltag, Krankheit, Leid, Schuld und Tod. Er nimmt es selber an. Von der Menschwerdung bis zum Tod am Kreuz ist Jesus der leibhaftige Zeuge Gottes, der sich in seiner Liebe mit unserem Menschsein verbindet, es durchleidet. Darin liegt die Erlösung, die uns nicht als unbeteiligte Bewunderer zurücklässt, sondern selber in das Wunder hineinzieht – trotz aller Begrenzung und Gebrochenheit, mitten im Alltag, unscheinbar und doch wirklich.

“Seht hin!” – Gott in der Welt

Für Menschen, die sich von dem Wunder berühren lassen, öffnet sich ein neuer Blick auf den Alltag, die Mitmenschen und die Verhältnisse: Sie beginnen glaubend auf die Welt zu schauen; Gott auch da zu entdecken, wo Schuld, Gottferne und Tod erlebt werden. Weil Jesus Christus selber alles angenommen hat, hat nun alles mit ihm zu tun. Pater Alfred Delp konnte mitten in der schrecklichen Gewaltherrschaft des Dritten Reiches kurz vor seiner eigenen Hinrichtung schreiben: „Die Welt ist Gottes so voll.” Er hatte aus der Perspektive des Glaubens eine unzerstörbare Hoffnung gewonnen, eine Hoffnung, die sein persönliches Schicksal weit überstieg.
Manchmal erbitte ich mir morgens ein wachsames Herz: Welche Menschen brauchen heute meine Aufmerksamkeit? Welcher kleine Handgriff ist dran? Gott im Vielerlei des Alltags mit wachem Herzen zu entdecken, ist nötig, um den eigenen Part nicht zu versäumen.
… zu einer Witwe … wurde Elija gesandt. Die Perspektive des Glaubens befähigt schließlich dazu, die Spannung zwischen den unendlich vielen Nöten und Aufgaben und unserem kleinen Beitrag auszuhalten. Sie nimmt uns bei aller Nähe zu den Menschen zugleich in eine innere Distanz. Es ist der Zwischenraum, der frei bleiben muss für Gott selbst. Denn er ist und bleibt bis zum Ende der Zeit der Handelnde. Wir wissen die Lösung nicht. Aber wir sind Zeugen dessen, der sich mit unserem Menschsein verbunden hat, und der alles vollenden wird. So bleibt unser Handeln immer Erwartung des Größeren:

Dein Reich komme!