Ich hatte schon viel vom Ökumenischen Christusdienst gehört und die Einheit der Christen ist meine Herzenssache. Aber am Wochenende des 2. Advents war ich zusammen mit meiner Frau erstmals in Ottmaring – meine Premiere. Ich machte eine beglückende Entdeckung: Viele Menschen, die mit dem Einheitsgebet leben. Ich gehöre zu ihnen.
Beim Begrüßungsabend konnten wir auch äußern, was uns schmerzt. Nicht wenige nannten die spürbare Distanz vom Glauben in unserer Gesellschaft. Diesen Schmerz nahm das Thema der Tagung auf: „Von der Liebe und dem Leiden Gottes”. Wir wurden eingeladen, einen „Perspektivwechsel” zu vollziehen, nämlich von unserem Schmerz hin zum Schmerz Gottes. Ich streckte meine Hände aus den ganzen Tag zu einem Volk, das mich ins Angesicht kränkt, sagt Gott in Jes 65. Der Raum in der Mitte der Bruderschaftskapelle in Ottmaring symbolisiert ja den anwesenden Gott.
Da ist der Ort Seiner Liebe und Seines Schmerzes. Dort werde still. Dort beginne deinen Weg zu den Menschen. Von dort nimm deine Kraft, wenn du zu ihnen gehst.
Und wenn einer etwa an der Uni in der Mensa für sich zu Tisch betet – „… uns zur Kraft und Dir zum Preise” – dann schließt er alle Anwesenden in der Mensa ein in Gottes Sehnsucht nach seinen Menschen.
Beim Abendgebet nannten wir ihm in der großen Fürbitte nach Chrysostomus die Einsamen und Irrenden und unsere Feinde. Und wir segneten sie – aus der Perspektive der leidenden Liebe.
In den Gruppengesprächen wollten wir uns gegenseitig ermutigen, in der neuen Perspektive zu beten und zu handeln und uns darin etwa dem Beispiel von Etty Hillesum anzuschließen. Diese junge Jüdin schrieb im KZ Westerborg (Holland): „Und wenn Gott mir nicht weiterhilft, dann muss ich Gott helfen… Mit jedem Herzschlag wird mir klarer, dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.” Sehr ungewöhnlich! Aber mitten in der Hölle der Verfolgung bewahrte sie sich ein Herz für die Menschen und in diesem Herzen einen Platz für Gott und für das Gutestun. So könnten wir uns einen Platz für die Trotzdem-Liebe auch zum säkularen Menschen bewahren.
Sonntagsgottesdienst am 2. Advent! Wir wurden in einer großen Predigt mit genommen auf einen dramatischen Weg der Wandlung des Mose. Am Anfang dieses Weges steht das Ich des Menschen und dieses will keinesfalls sterben, sondern um jeden Preis am Leben bleiben. Aber da sind ja die Menschen, das Volk, das an seiner Sünde sterben wird. Will mein Ich leben auf Kosten all der Verlorenen? Ich oder das Volk! An Mose, „einer brüderlichen Urgestalt im Geheimnis des Anfangs” (E. Wiesel) entdeckten wir Stationen der Veränderung. Schritt für Schritt wurde Mose bereit, eben nicht die eigene Haut zu retten und statt Israels selbst zum großen Volk zu werden. Tilge mich aus deinem Buch, bittet er Gott zuletzt. Das Ich wird bereit zu sterben, d.h. im Sinne der Tagung: Mit dem gekreuzigten Christus die Arme auszubreiten und die Gottfernen heim zu lieben.
Es hat mir imponiert, dass das Einheitsgebet von Ottmaring auch in den Gemeinden Wurzel geschlagen hat. Am Abend der Begegnung in den Häusern lernten wir solche Einheitsmenschen näher kennen.
Auf der Anreise zur Tagung fanden wir den Ort Ottmaring nicht auf Anhieb. Wir hatten uns unterwegs richtig verfranzt. Zuletzt fragten wir uns durch von einem Passanten zum andern, um mit Verspätung schließlich doch noch anzukommen. – Ja, so ist das mit der Einheit. Auf dem Weg dahin geht es nicht ohne Enttäuschung, Mühe und eigene Veränderung ab. Aber es gibt auf dem Weg zur Einheit Glücksmomente, die wie ein Ankommen sind.
Winfried Müller, Altensteig