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Ich bin der gute Hirte.
Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.
Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.

hirte
Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.

Joh 10, 11 – 16, Joh 10, 27 – 30

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Dorothea Vosgerau

Welches Bild wird in uns wach, wenn wir den Text vom guten Hirten hören? Haben wir ein Bild im etwas süßlichen Stil der Nazarener-Schule vor Augen, wie es vielleicht bei unsern Großeltern noch über den Ehebetten hing – ein sanftes Hirten-Bild mit nur einem einzigen Schaf? Oder kommt uns gleich der 23. Psalm auf die Lippen? Vielleicht klingt in uns auch das Lied auf: “Der Herr ist mein getreuer Hirt, hält mich in seiner Hut…“

Das sind alles Bilder, die auch biblischen Texten entsprechen; aber es sind keine Bilder, die aussagen, was in Joh. 10 vom guten Hirten gesagt wird.

Jesus – der andere Hirte.

Jesus spricht hier zu den Pharisäern. Er versucht, ihnen im Bild vom Hirten und seiner Herde den Unterschied deutlich zu machen zwischen ihrem Hirte-Sein und seinem eigenen Hirte-Sein.

Das Hirten-Bild war den Pharisäern aus dem Alten Testament gut bekannt. Für sie war Gott selber der gute Hirte, der sein Hirte-Sein übertragen will – wie es Hes. 34, 23 sagt: “Und ich will ihnen einen einzigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht David. Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein.“ Das kannten sie und glaubten sie und darauf warteten sie.

Umso provozierender ist für sie Jesu Behauptung: “Ich bin der gute Hirte.“ Die Leidensgeschichte mit der Verurteilung zeigt uns deutlich, dass das Volk Israel Jesu messianischen Anspruch nicht annehmen konnte. Und der Nachsatz: “Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe,“ provoziert die pharisäischen Zuhörer nur noch mehr.

Uns erinnert das Wort an Jesaja 53: “Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen… Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten.“ – Aber die Pharisäer hatten verständlicherweise die gleiche Messias-Erwartung wie die Emmausjünger. Auch sie konnten die Auferstehungs-Ereignisse ja nicht verstehen, weil sie Jesu Leiden und Sterben nicht mit ihren Erwartungen in Einklang bringen konnten.

Jesus fährt fort mit der Provokation: Für ihn ist die Charakteristik eines Mietlings, dass ihm die Schafe nicht gehören. Deshalb wird er auch sein Leben nicht für sie einsetzen, wenn Gefahr droht. Ein Mietling ist einer, der einen Job hat. Jesus dagegen bezeichnet sich selbst als Eigentümer der Herde. –

Ist es ein Wunder, dass die Pharisäer, die verstanden hatten, dass sie in Jesu Augen Mietlinge seien, wenig später sagen: “Er hat einen bösen Geist und ist von Sinnen“? Waren sie als Schriftgelehrte und Gerechte nicht die von Gott selbst bestellten Hirten seines auserwählten Volkes?

Aber Jesus bleibt bei seiner Aussage und unterstreicht sie noch einmal: “Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.“ Das alles sagt Jesus zu Angehörigen des auserwählten Volkes. Sie sind die ersten, die zu seiner Herde gehören.

Jesus – der Hirte für Juden und Heiden.

Im nächsten Vers aber geht er noch einen Schritt weiter – einen so großen Schritt, dass ihn auch seine Jünger nicht mehr verstehen können, wenn er sagt: “Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.“

Wen meint Jesus damit? – In der Apostelgeschichte wird von der Begegnung des Petrus mit dem römischen Hauptmann Kornelius berichtet. Gott muss durch Gesichte und merkwürdige Begebenheiten Petrus zu der Einsicht bringen, dass der Heilige Geist auch Heiden gegeben wird. Erst dann sagt er – von dem Erlebten überwältigt: “Kann auch jemand denen das Wasser zur Taufe verwehren, die den heiligen Geist empfangen haben ebenso wie wir?“ Und Petrus tauft die Heiden, die den Heiligen Geist empfangen haben. Mit den andern Schafen sind also die getauften Heiden gemeint, die bisher nicht zum auserwählten Volk gehörten. Von ihnen sagt Jesus, dass er sie auch herführen muss. Und wörtlich: “Sie werden meine Stimme hören und es wird eine Herde und ein Hirte werden.“

Von diesen Heiden sagt der 1.Petr. 2,25: “Denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.“ Es kann also gar keine Frage sein, wer mit diesem Jesus-Wort gemeint ist: Wir sind gemeint! Wir, die wir nicht zum auserwählten Volk der Juden gehören, aber bekehrt sind zu dem Hirten und Bischof unsrer Seelen; wir, die den Bund, den Gott mit uns in der Taufe geschlossen hat, angenommen haben.

Von uns sagt Jesus, dass wir sein Eigentum sind, dass er uns kennt und wir ihn kennen; dass wir auf seine Stimme hören und ihm folgen; dass er uns das ewige Leben geben wird und dass niemand uns aus seiner Hand reißen wird.

Hier ist also von zwei Herden die Rede: einer Herde aus dem auserwählten Volk und einer Herde aus den Heiden.

Kommt uns da nicht das Wort des Apostels Paulus aus dem Epheser-Brief in den Sinn: “Denn Er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft?“ – Paulus hatte die Feindschaft zwischen Juden und Christen vor Augen.

Jesus – der Hirte einer alle umfassenden Herde.

Wir sind allerdings nach 2000 Jahren leid- und schuldbeladener Kirchengeschichte im christlichen Lager so zerrissen, dass wir bei der Zusammenführung der Herden immer nur an uns Christen aus den Heiden denken. Das ist eine unzulässige Verkürzung. Die Einheit, zu der der gute Hirte uns führen wird, wird ein noch viel größeres Ausmaß haben.

Aber unser Text spricht nicht in erster Linie von dieser einen Herde, sondern von dem guten Hirten. Die eigentliche Aussage heißt: “Ich bin der gute Hirte.“

Als guter Hirte gebe ich mein Leben für die Schafe.
Als guter Hirte kenne ich die Meinen.
Als guter Hirte spreche ich zu den Meinen.
Als guter Hirte gebe ich ihnen das ewige Leben.
Als guter Hirte sorge ich dafür, dass niemand die Herde aus meiner Hand reißen kann.
Als guter Hirte werde ich die anderen Schafe herführen und dann wird eine Herde und ein Hirte sein.

Liebe Brüder und Schwestern, die wir alle durch die Annahme unseres Taufbundes zu dieser Herde des guten Hirten gehören dürfen, zu dieser großen Gottesfamilie, lasst uns von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit allen Kräften annehmen und glauben, dass Jesus mit seinen Schafen aus diesem und jenem Stall zu seinem Ziel kommen wird. Er wird aus Juden und Christen, die an ihn glauben, eine Herde machen und die Einheit vollenden. Wie viel mehr wird er auch aus den Christen selber eine Herde machen, weil alle seine Schafe sein Eigentum sind und er sein Leben für alle gegeben hat.

Mit dem Satz: “Ich und der Vater sind eins“ schließt Jesus dieses Evangelium ab. Je bewusster wir in der Einheit mit dem dreieinigen Gott leben, je intensiver wir das gemeinsame Leben mit Gott, dem Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist und miteinander einüben, desto weiter kann er unser Herz machen für die eine Herde, die er durch den guten Hirten schaffen wird. Das ist die aufrüttelnde Botschaft des Evangeliums vom guten Hirten.