Michael Decker
Hoffnung gestalten
In der Notzeit des Dreißigjährigen Krieges vertrat [[Johann Amos Comenius]], der große Pädagoge des 17. Jahrhunderts und Bischof der sterbenden Brüderkirche, bereits den modernen ökumenischen Gedanken. Comenius beklagte die Aufsplitterung der Christen in Konfessionen, Meinungen und Riten und hielt auch die Reformation für noch unabgeschlossen, weil sie die Menschen noch nicht genügend auf ein Leben in den Fußspuren Jesu geführt habe. – In der Kirchengeschichte hat die Person und ihr Wirken helle Hoffnungszeichen gesetzt, an die wir gerne erinnern.
Allumfassendes Denken
Seine ganze Schaffenskraft setzte Comenius in den Versuch, Auswege aus dem „Labyrinth der Welt“ zu finden. Unermüdlich dachte er darüber nach, wie Kinder gelehrt und erzogen werden müssten. Nicht derjenige galt ihm als gebildet, der sich in möglichst vielen Teilbereichen gut auskannte. Comenius lehnte die übliche Aufhäufung von Wissen ab. Er wollte Menschen heranbilden, die die Seele der Dinge, ihre innere Ordnung, ihren Zusammenhang mit dem Ganzen der Schöpfung begriffen. Es kam ihm darauf an, mit seinen Schülern überall in Natur, Geschichte, Gemeinwesen oder Kunst die Spuren Gottes zu entdecken. Er wusste um die unauflösliche Einheit Gottes mit seiner Schöpfung, mit Menschheit und Welt. Die Kinder sollten beobachten lernen und vom Kleinen zum Großen, von unten nach oben, vom Teil zum Ganzen vorwärtsschreiten. Statt um Allwissenheit ging es ihm um das Wissen vom All und dem All-Einen.
Comenius nahm sich zuerst des Sprachunterrichts an. Er gab ein neues Lehrbuch heraus, mit dem lateinische Wörter nicht wahllos eingepaukt, sondern sinnvoll gelernt wurden. Jedes Wort wurde in ein Umfeld praktischer Lebenszusammenhänge gestellt. Mit dem Lernen der Sprache wurden zugleich naturwissenschaftliche Einsichten und geschichtliche Kenntnisse vermittelt. Als später noch die von Comenius selbst gemalten Illustrationen dazukamen, entstand in der Schulstube ein Weltbild, aus dem die göttliche Ordnung aller Dinge erkennbar wurde. Comenius schöpfte dabei sein Wissen aus drei Quellen: Aus dem Buch der Bibel, der Offenbarung des heiligen Willens Gottes; aus dem Buch der Natur, d.h. aus der Welt als dem Schauplatz der Wirksamkeit Gottes; und aus dem Buch der Vernunft, in dem der denkende, glaubende und durch Leiden geläuterte Geist des Menschen die Wahrheit erkennt. Jedes Buch wird jeweils nur durch das andere verständlich, zusammen bilden sie die Bücher des Ganzen. Um darin zu lesen, braucht der Mensch die geöffneten Augen des Glaubens, der Sinne und des Verstandes. So sah sich Comenius aufgerufen, seine Schüler das Ganze von Grund auf gründlich zu lehren, um dabei die Grundlage zu einer Verbesserung und Erneuerung aller kirchlichen, sozialen und politischen Lebensformen zu schaffen. Diese Art der Weltsicht nannte Comenius „ganzheitlich allumfassendes Denken„; damit wollte er allen Menschen zeigen, dass Gottes Weisheit alle Dinge trägt. Gott hat den Menschen zum Bewunderer seiner Weisheit bestimmt, und er schenkt ihm selbst Weisheit, ohne die der Mensch verlorengeht.
Gewalt sei ferne den Dingen – Alles fließe von selbst
Die Glieder der Brüderunität konnten dem umfassenden Denken ihres Seniors oft nicht folgen. Stand er nicht in der Gefahr, sich in pädagogischen Allmachtsphantasien zu verlieren, während es den Menschen um das nackte Überleben ging? Wenn die Erwachsenen ihn nicht verstehen wollten, schrieb Comenius unter seine Briefe ‚Der Apostel des Kleinvolks‚. Oft ließen ihn seine Brüder nur gewähren, weil er bei Fürsten und Königen Eingang fand und immer wieder hohe Geldsummen beibrachte, die er uneigennützig unter den Notleidenden der Gemeinden verteilte. Trotz aller Kriegswirren, Rückschläge und Verluste bewahrte sich Comenius ein biblisch gegründetes Verständnis der Erlösung. Er unterstrich, anders als Luther vor ihm, weniger das Sündersein des Menschen, dem durch das Kreuz Jesu die Rechtfertigung vor Gott verheißen ist. Comenius betonte mehr die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die Christus durch seine Auferstehung tatsächlich wiederhergestellt hat. Die ganze Schöpfung, die von Gott her kommt und von ihm erhalten wird, kehrt auch zu ihm zurück. Diesem Ziel muss sich der Mensch entgegenstrecken. Comenius wanderte mit seinen Schülern durch die ganze Gotteswelt und spürte dem Geist nach, der von dem Einen kommt, durch das All geht und zu dem Einen zurückkehrt. Wem sich diese unaufhörliche Bewegung erschließt, für den muss alles Überflüssige abfallen, nur das Notwendige soll er lernen und behalten. Auf diese Weise gewinnt er Freiheit und Demut. Wer so lernt, tut es aus eigenem Antrieb; alles fließt von selbst, wenn es ohne Gewalt gehen darf. So lehrte Comenius: ‚Die Welt wird vom Überflüssigen erdrückt. Wenn die Seele mit sich eins wird, braucht sie auch nur eines. Die alleinige Ursache aller Verlegenheit in der Welt ist die, dass die Menschen nicht zwischen Notwendigem und Überflüssigem zu unterscheiden lernen. Darum verwickeln und verwirren sie sich ohne Ende. In jedem Ding suche man das eine Notwendige: Das ist der einzige Ausweg aus dem Labyrinth der Welt.‘
Testament einer sterbenden Mutter
Zeitlebens blieb Comenius von dieser Hoffnung erfüllt, die Schöpfung würde auf eine neue Erde und einen neuen Himmel zueilen. Aber im Lauf der Jahrzehnte ahnte er immer mehr, dass der geradlinige Weg über die Erziehung nur modellhaft geschenkt würde. Comenius hätte so gerne eine Atlantische Gesellschaft gesammelt, einen Bruderbund über alle nationalen und konfessionellen Grenzen hinweg, in dem sich Menschen miteinander verbanden, die alle Dinge und Ereignisse mit den Augen Gottes betrachten würden. Er wollte dabei aber weder eine ideale Gesellschaft noch ein irdisches Paradies bauen, sondern er wollte Ruhe schaffen, damit die Stimme Gottes gehört werden konnte. Doch er musste erkennen, dass das Neue nicht aus dem besten Streben des Menschen, sondern aus dem Sterben des Alten erwachsen würde. Sein eigenes Leben war ein fortwährendes Loslassen und Sterben gewesen. Gerade auf diesem Leidensweg lernte er für sich persönlich, was die Brüderunität immer wieder erfahren hatte: Auch das Leiden kann Gott dazu dienen, die Menschen für seine Absichten zu erziehen und zu formen.
Als durch die unglücklichen Friedensverhandlungen von Münster endgültig klar wurde, dass Comenius der letzte Bischof der Brüderkirche war, schrieb er im Jahr 1650 sein berühmtes Buch ‚Vermächtnis der sterbenden Mutter der Brüderunität‘. Gerade in dieser Schicksalsstunde sollte der Apostel des Kleinvolks auch zum Apostel der Großen werden.
Die Kirche Christi ist zum Weizenkorn bestimmt; die Bruderkirche war ein Weizenkorn, das sterben musste, um Frucht zu bringen. Auf ihrem Leidensweg war sie dazu vorbereitet worden. In allem hatte sie ihre Pflicht darin gesehen, die Herrschaft Christi zu erwarten und selbst Christi Zeuge zu sein. Dabei wollten die Brüder, anders als die übrigen Konfessionen, nie herrschen, weder durch Lehre noch durch äußere Ordnungen. Schon die Gründerväter der Unität hatten erkannt, dass sie um das Reich Gottes nicht kämpfen dürften, sondern sich opfern mussten. Comenius war in diese Sukzession getreten. Er hatte sich nie zu dogmatischen Streitigkeiten hinreißen lassen. Wo er konnte, durchbrach er die Schranken der Konfessionen und betonte unermüdlich, dass es nur eine heilige Kirche gibt. Er erkannte, dass die Konfessionen immer nur Menschenwerk bleiben, und er wollte verhindern helfen, dass sie zu Mauern werden, hinter denen sich die Kirchen voreinander verschließen. Die Zersplitterung empfand er als Sünde und Unglück. Solange sie anhielt, sah er den Rückweg zum Urbild der Kirche und das Leben im schlichten Gehorsam des Evangeliums vor allem darin, dass die Konfessionen Buße taten für die gegenseitigen Verketzerungen und alles Unheil, das daraus entstanden war. Als erste Reformbewegung hatte die Brüderunität von Gott den Auftrag bekommen, für die Einheit und Erneuerung der Kirche einzutreten. Diesen Auftrag hatte Gott nicht zurückgenommen, obwohl die Gemeinschaft derer, die aller Brüder sein wollte, jetzt dem Untergang geweiht war. So wird verständlich, warum Comenius die Schätze dieser Mutter-Gemeinde den anderen Gemeinden weitergeben wollte. Seine Schrift ist ohne Beispiel in der Kirchengeschichte. Statt an sich zu denken und das eigene Sterben zu betrauern oder zu rechtfertigen, sorgt sich Comenius darum, dass Gott in allem geehrt und verherrlicht wird. Das anvertraute Eigentum durfte kein Eigengut bleiben, sondern sollte zum Segen werden für alle, die das Zeugnis der sterbenden Mutter annahmen.
(Der vollständige Beitrag erschien 1992 im Quatemberboten.)