Michael Decker
Es ist ein jahrelanger Weg, auf dem Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen. Auch wer von Gottes Liebe plötzlich ergriffen wird, muss Wege gehen, auf denen er den Glauben einübt und vertieft. Auf die ersten Schritte folgen weitere Bekehrungen: die Hinkehr zum Menschsein und zur Welt und die Hinkehr zum ganzen Leib Christi.
Ich wuchs in einem evangelischen Diakoniedorf im katholisch geprägten Pfaffenwinkel des Allgäus auf. Als evangelische Schulkinder in der benachbarten Kreisstadt trugen wir immer einen unsichtbaren Stempel. Wir fühlten uns oft als Außenseiter, weil das Leben in Schule und Öffentlichkeit deutlich durch das röm.-kath. Umfeld bestimmt wurde.
Manchmal jammerten die Evangelischen, wenn die Katholiken mit Selbstverständlichkeit ihre konfessionelle Glaubens- und Weltsicht für das einzig Gegebene hielten. Später im Studium lernte ich die umgekehrten Verhältnisse kennen: Im bayrischen Franken klagten die Katholiken, wenn sie von den Protestanten dominiert wurden.
Zwischen dem Allgäu und Franken lag für mich Jerusalem. Mit dem wunderbaren Freiheitsgefühl eines bestandenen Abiturs ging ich für 18 Monate nach Israel. Meine erste Bekehrung und nachfolgende Taufe waren kurz zuvor geschehen. In Israel begegnete ich bald den komplizierten politischen und geschichtlichen Fragen des Nahostkonflikts. Ich traf viele Juden, die den Holocaust überlebt hatten; später lernte ich Palästinenser kennen, die unter der Besatzungsgewalt der Israelis litten. Nicht zuletzt die Erlebnisse während des Yom Kippur Krieges öffneten mir Augen und Herz für die Nöte vieler Menschen. Wie kann Gottes Barmherzigkeit in eine Welt kommen, die ihn nicht kennt oder vergessen hat?
Gott hat ein großes Volk
In Israel erlebte ich eine weitere, wegweisende Horizonterweiterung: Ich traf nicht nur auf bedeutende Ruinen und alte Spuren des Christentums. Ich lernte auch ganz verschiedene Christen aus aller Welt und aus verschiedensten Traditionen kennen. Ein Beispiel war für mich die Grabeskirche in Jerusalem: Im Hauptschiff dieser Kirche sind die großen alten Konfessionen seit alters vertreten: die röm.-kath. Kirche und mehrere orthodoxe Konfessionen. Evangelische Christen besitzen in der Grabeskirche keine Kapelle oder Nische und haben keine Rechte. Unter den Mitgliedern der alten orientalischen und katholischen Kirchen gibt es manchmal Streit; man duldet sich an diesem heiligen Ort gegenseitig, doch es gibt kein gemeinsames christliches Zeugnis.
Sehr gern besuchte ich die koptischen Mönche – meist christliche Ägypter – die auf dem flachen Dach der Grabeskirche in sehr bescheidenen Verhältnissen wohnen. Die Kopten sind in der Familie der orthodoxen Christen nicht besonders angesehen. Die koptischen Mönche leben arm, aber ich traf unter ihnen sehr fröhliche, starke Menschen.
Noch viele andere Christen aus aller Welt und mit unterschiedlicher Prägung verhalfen mir zu einer wirksamen Blickerweiterung. Ich lernte, dass der Leib Christi größer ist, als meine eigene und jede andere Konfession. Der Glaube an Gott lebt auch unter Menschen, die ganz anders geprägt sind als ich, die anders singen, anders beten, die ihren Glauben anders zum Ausdruck bringen. Meine Entdeckung war nicht: Irgendwie sind doch alle Christen. Oder: Irgendwie glauben alle an Gott und sind auf ihre Weise religiös. Sondern: Gott lässt es zu, dass Menschen ihn auf unterschiedliche Weise suchen, finden und bekennen. Es ist der lebendige Gott, der lebendigen Glauben in Katholiken und Orthodoxen, in Kopten und Armeniern, in Anglikanern und Lutheranern, in Pfingstlern und Methodisten usw. weckt und bewahrt. Die eine Kirche ist heilig, umfassend und ungeteilt; alle Getauften gehören ihr an. Die einzelnen Kirchen sind Teilkirchen, die wichtiges Gut bewahrt haben, und der ganze Christus ist der eine Christus. Keine Konfession kann den ganzen Christus umfassen.
Später wurde mir bewusst: Wer so redet, bewegt sich auf einem schmalen Grat. Er kann entweder links oder rechts abstürzen. Links droht der Absturz, wenn die Dinge relativiert werden, wenn man sagt: Es kommt doch auf die Einzelheiten oder die Unterschiede der Lehre gar nicht so an; es ist doch derselbe eine Gott.
Rechts droht der Absturz, wenn die Dinge verabsolutiert werden, wenn man an der eigenen Lehre und Tradition, an der vertrauten Frömmigkeit als der einzig gültigen festhält.
Der schmale Grat muss in Vertrauen und Demut gewagt werden. Das alte Glaubensbekenntnis bleibt in Kraft, wie es von Anfang an gemeint war. Im dritten Abschnitt heißt es: „… Ich glaube an den Heiligen Geist, die eine heilige katholische (=umfassend christliche) Kirche…” Das fordert eine immer neue Hinkehr zur ganzen Kirche, zum ganzen Leib Christi heraus. Diese eine Kirche war bei Gott nie getrennt. Nur wir Menschen kommen nicht miteinander aus und streiten uns über den richtigen Gottesdienst, über die Ämter und die rechte Lehre.
Bereits der Apostel Paulus ruft auf, die Einigkeit des Geistes durch das Band des Friedens zu bewahren. Wir sollen mitwirken, dass Zeichen der Einheit gesetzt werden und die Vielfalt ein Ausdruck für die Ehre und Gnade Gottes wird.