Joachim Schwind

„Den Willen Gottes tun kann heißen: sich bescheiden, dass man diesen Willen nicht kennt; in der Unkenntnis aber, falls es möglich ist, warten; falls es nicht möglich ist, samt unserer Dunkelheit handeln, wie Blinde, die um ihre Blindheit wissen und sich trotzdem auf den Weg machen.
Weil man im Leben Gottes Willen Masche um Masche stricken soll, darf man daraus nicht schließen, dass wenn man eine fallen lässt, alle übrigen mitfallen. Nein, auch wenn wir einen Haufen Fehler machen, gibt es doch etwas Unzerstörbares, das allem widersteht, und immer erwartet uns der gleiche Wille Gottes wieder in der Minute, die auf unsere Weigerung folgt, diese mag klein oder groß sein.“
Aus: M. Delbrel: Frei für Gott, Einsiedeln 1991

Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten. Jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen. Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt (Mt 7,18-21).

Ich möchte zwei Lesarten zu dieser Schriftstelle anbieten:
Die erste ist eine etwas vordergründige Lesart:
Das Himmelreich, das wir alle gerne bewohnen möchten, ist etwas Schönes, Wunderbares, eine Art geistliches Schlaraffenland, wo sich all unsere Sehnsüchte erfüllen, wo wir glücklich sind, wo es kein Leid geben wird, keine Trauer, keinen Tod.
Gott, der Alleinherrscher über dieses Reich, lässt allerdings nicht jeden hinein.
Zutritt bekommt nur, wer tut, was er will, und dafür seinen eigenen Willen zurückstellt. Weil wir jedoch davon überzeugt sind, dass das, was Gott will, gut ist, und dass es sich lohnt – nicht zuletzt eine ganze Ewigkeit lang, nehmen wir die Mühe auf uns, unseren eigenen, widerständigen Willen immer wieder seinem Willen unterzuordnen.
Wir strengen uns an und beißen die Zähne zusammen, wenn es einmal ganz dicke kommt: Wie Gott will, ich halte still. Der Lohn ist schließlich ewige Seligkeit.

Ich habe viele Jahre gebraucht, um durchzustoßen zu einer anderen Lesart, die ich der Intuition von [[Chiara Lubich]] verdanke: Gott ist Liebe! Was aus ihm hervorgeht, kann nur Liebe sein.
Er, die Liebe, hat die Welt ins Dasein gerufen – durch sein Wort, und dieses Wort ist immer nur eines: Liebe.
Gott, die Liebe, sagt sich selbst, sagt Liebe – und wird so schöpferisch tätig.
Gott sagt immer nur dieses eine Wort: Liebe, aber er sagt es in immer neuen, je verschiedenen Klängen und Klangfarben.
Jede und jeder von uns ist so ein Wort Gottes.
Für jede und jeden von uns gilt: Gott hat auf einmalige Weise Liebe gesagt, und herausgekommen bin ich – Joachim; ich – Dorothea, ich – Karin; ich – Rolf.
Jede und jeder von uns ist ein Ausruf der Liebe Gottes, eine Klangfarbe in der unendlichen Vielfalt von Klängen, in der Gott sich selbst zum Ausdruck bringt.Seit wir geboren sind, befinden wir unsauf dem Weg, um diesen einen, einzigartigen, unverwechselbaren Klang zum Klingen zu bringen; jenen Klang, mit dem Gott mich, meinen Namen, ausgesprochen hat.
Seit ich geboren bin, bin ich auf dem Weg zu mir selbst, und ich werde erst dann voll und ganz Ich sein, wenn ich ganz Liebe bin, aber Liebe in jenem besonderen, unvergleichlichen Tonfall, den Gott nur ein einziges Mal ausgesprochen hat.
Das Spannende an der Geschichte ist: Ich kann mich diesem Weg zu mir selbst verweigern. Es ist der Gipfel der Liebe Gottes, dass er mir die Freiheit gibt, zu mir selbst Nein zu sagen. Und mit jedem Nein entferne ich mich mehr von der Verwirklichung jenes Klanges seiner Liebe, den er vor der Ewigkeit in mich hineingesagt hat.
Aber er wäre nicht Liebe, wenn er mir nicht überall Spuren zu mir selbst ausgelegt hätte:
Er bietet mir Geschichten, Erfahrungen, Schriften an, die mir den Weg zurück zu mir selbst zeigen.
Er schenkt mir Menschen, die mir so aufrichtig ein Gegenüber sind, dass in ihnen der Klang meiner Existenz ein liebevolles Echo findet, sich mir auf diese Weise gereinigt und bereichert zu Gehör bringt und mich so bewahrt vor der Gefahr der sprachlichen Selbstermächtigung.
Er lässt Orte entstehen, die – wie Ottmaring – bereits Probe- und Resonanzraum jener vielstimmigen Sinfonie sind, zu der sich alle diese Klangfarben des einen Wortes vereinen wollen.
Nicht zuletzt hat Gott sich selbst ausgesprochen in einem vollständigen umfassenden Wort, in dem er Mensch geworden ist, um uns in jeder Situation den Weg zurück zu uns selbst zu zeigen.
Schauen wir noch einmal auf unseren Schrifttext:
Die guten Früchte, die ich bringen soll, bringen will, sind dann nichts anderes als die Fülle jenes Klanges, in dem ich erklingen kann, wenn ich endlich ganz Ich sein werde: jener einmalige Ausdruck der Liebe Gottes.
Der Wille Gottes ist dann nichts anderes, als der – bisweilen durchaus mühsame – Weg hin zu mir selbst.
Das Himmelreich, in das ich eintreten möchte, ist dann nichts anderes als jener Chor, in dem einst alles Geschaffene auf je eigene Weise das eine Wort Liebe in unendlichen Klangfarben zum Schwingen bringt – in einer nie da gewesenen vollendeten göttlichen Harmonie.