Wie ist es mit dem Gottvertrauen, wenn einem tiefes Leid widerfährt? Wenn es dabei gestärkt wird, ist es ein besonderes Geschenk, aber wahrlich kein Spaziergang des Lebens. Darin Gottes Gegenwart und Handeln zu erleben und Glaube, Hoffnung und Liebe als unerschütterliches Fundament zu spüren, wird hier deutlich. Diese Erfahrungen und Einsichten können uns zur Vertiefung des Lebens verhelfen und zum Trost werden
Als ich um diesen Artikel gebeten wurde, fiel es mir zunächst schwer, für mich selbst das zu beschreiben, was Leid in meinem Leben ausmacht. Ich möchte hier als Grundlage für meine Gedanken die Blickwinkel aus den letzten Jahren gemeinsamen Lebens mit meiner Frau und heute als Witwer einnehmen. Ich tue das unter Überschriften, die sicherlich nicht vollständig sind, jedoch unterschiedliche Facetten zeigen sollen, die mir bewusst geworden sind. Und vielleicht hat sie der eine oder andere auch so erlebt oder durchlebt.
Leben mit Leid und Tod: Was bewegt mich, und was trägt mich?
Leid annehmen oder beseitigen?
Dieser Gedanke kam mir beim Lesen eines Artikels im „Lexikon für Theologie und Kirche“. Dort wird die Akzeptanz von Leid auf einer zeitlichen und gesellschaftlichen Schiene betrachtet. Der mittelalterliche Mensch war viel häufiger als wir heute mit Leid konfrontiert. Tod und Katastrophen waren durch ihn selbst nur bedingt abwehrbar und somit als Teil des Lebens hinzunehmen. Der Tod selbst stand den Menschen dieser Zeit als ein ständiger Begleiter ihres Lebens nahe.
So leben wir heute nicht mehr. Der Tod ist in eine Ecke gedrängt, in die wir uns am liebsten nicht verirren. Der Mensch der letzten Jahrhunderte hat seine Freiheit dazu genutzt, um Leid aus eigenem Antrieb zu verringern – mit den Möglichkeiten, die ihm gegeben waren. Fortschritte in Medizin, Technik und Naturwissenschaften prägen unser Leben heute. Aufgrund des Technikglaubens der letzten 50 Jahre wähnt sich unsere Gesellschaft heute in einer von Leid befreiten Sorglosigkeit.
Nun lebe ich nicht im Mittelalter und möchte es auch nicht. Doch ich sehe auch die Grenzen unseres Fortschritts. Wir können uns das „Paradies auf Erden“ nicht selber schaffen. Unsere kleine sorglose Welt hat ihre klaren Grenzen. Das wurde uns als Familie bei der Krebserkrankung meiner Frau Claudia vor sieben Jahren sehr klar. Die erste Diagnose war schon ein erheblicher Einschnitt in unser sonst so „normales“ Leben. Die Ärzte eröffneten uns recht gute Prognosen durch Operation und Chemotherapie, doch Claudia war – auch aus ihrer Erfahrung als Krankenschwester auf einer Krebsstation – bewusst: „Diese Diagnose kann meinen Tod bedeuten!“
Es war aber nicht der Auftakt zur Resignation, vielmehr der Startschuss, den Kampf aufzunehmen – mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Uns war allerdings auch bewusst, dass es dabei nicht nur um medizinische Mittel geht, sondern auch um die Frage: „Was traue ich Gott zu, und wie tief lasse ich ihn in mein Leben?“ Die Frage „Leid annehmen oder beseitigen?“ hatte für uns die Antwort: Beides – mit den uns gegebenen Möglichkeiten. Es war für uns klar, dass wir die medizinischen Errungenschaften nutzen und Gott selbst in diese Situation hineinlassen wollten – in dem Bewusstsein, dass er uns hindurchführt, vielleicht nicht immer so, wie wir es wollen, aber immer in unendlicher Liebe. Leid wurde hier für uns ein Weg zu tieferem Gottvertrauen.
Leid und Freude
Die Freude im Leben nehme ich oft ganz normal und selbstverständlich an; das Leid hingegen ist ein ungeliebter Gast, den ich mir nicht freiwillig einlade. Er kommt manchmal durch die Hintertür, und in den meisten Fällen begegnen wir ihm dann unerwartet.
Ich erinnere mich sehr gut an den Tag, an dem Claudias Arzt uns sagte, dass es nun keine heilende medizinische Maßnahme mehr für ihre fortgeschrittene Krankheit gebe und dass er ihr nun nur noch Hilfen zur Linderung der Symptome und Verbesserung der Lebensqualität anbieten könne. Da wurde mir noch einmal ganz eindrücklich klar, wie endlich und zerbrechlich unser Leben und unser Lebensraum sind. Wieder habe ich die Freiheit der Wahl. „Wie gehe ich damit um?“ Nehme ich die Situation an, oder versuche ich sie zu verdrängen?
Unser Gottvertrauen zerbrach nicht, auch nicht in dieser aussichtslosen Situation. Welch ein Geschenk! Die Hände unseres Arztes und auch unsere waren leer. Doch Gott hat uns nicht fallen lassen, und es gab auf diesem letzten gemeinsamen Weg viele Menschen, die er uns zur Seite stellte, die uns ihre Zeit schenkten und uns dadurch stärkten. Es war erlebtes Glück in einer aussichtslosen Situation; unverdient und uns geschenkt. Wir haben erlebt, wie Gott handelt. Er ist uns nahe in Freude und Leid.
Leid und Freiheit
Was hat das nun miteinander zu tun? Ich durfte lernen, dass Gott uns nicht die Freiheit nimmt und dass es nicht immer nur einen richtigen Weg gibt. Ich habe immer die Wahl, und ich darf mich entscheiden. Hier ist Gott nicht der, der mich Leid erfahren lässt als Strafe oder Konsequenz meines Tuns. Ich erlebe Gott als den Treuen, den Beistand und den Tröster an meiner Seite. Er achtet in jeder Situation meine Freiheit, die er mir in seiner Liebe geschenkt hat. Wie auch immer ich mich entscheide: Er geht mit mir.
Hier denke ich an einen Satz Claudias, den sie mir einige Tage vor ihrem Tod sagte – in aller Freiheit, aber auch in dem Erleben der Liebe Gottes: „Ich habe keine Angst vor dem Tod, vor dem was kommt. Es schmerzt mich nur, euch hier zurücklassen zu müssen!“ Sie hätte es nicht sagen müssen. Doch ausgesprochen ist dieser Satz heute ein Trost für mich und Grund zur Dankbarkeit.
Leid und Schmerz
Es sind zwei Begriffe, die oft gemeinsam oder auch austauschbar genutzt werden. Für mich bedeuten sie jedoch nicht das Gleiche. Das Leid ist für mich ein Prozess, in den ich eingewoben bin. Ich kann ihm nicht entfliehen, aber ich habe die Möglichkeit, ihn zu gestalten. Dieser Leidensprozess kann sich dann in zwei Richtungen entwickeln: am Leid zu zerbrechen oder am Leid zu wachsen. Wir sind nicht dagegen versichert, am Leid zu zerbrechen, denn auch diese Möglichkeit gehört zu unserer Freiheit im Umgang mit dem Leiden. Zieht es mich immer weiter abwärts, bis ich auch in der tiefsten Einsamkeit des Leidens keinen Lichtstrahl mehr sehe? Die zweite Option besteht darin, dass das Leid mich in ein inneres Wachstum hineinführt und mir neue Perspektiven erschließt – hin zu der Sicht, dass mir vieles auch geschenkt ist als Hilfe und Halt.
Wo auch immer ich mich auf diesem Weg befinde, der Schmerz über die eigene Begrenztheit und Endlichkeit bleibt mir ein ständiger Begleiter. Ich will ihn nicht bekämpfen, aber ich will ihn bewegen in meinem Herzen und die Chance ergreifen, mein Leid zu Dankbarkeit umwandeln zu lassen. Ich empfinde den Schmerz in vielen unerwarteten Augenblicken meines heutigen Lebens. Da ist der Schmerz, Claudia nicht mehr an meiner Seite zu haben, auf mich allein gestellt zu sein, wo wir sonst gemeinsam Freude erlebt und Perspektiven entwickelt hätten. Dieser Schmerz des Verlusts wird mich immer begleiten, denn mit ihrem Tod ist auch ein Stück in meinem Herzen gestorben. Aber ich will ihn nicht verdrängen, sondern ihn als Basis für meine Dankbarkeit nehmen: zum einen Dankbarkeit für so viele gemeinsame Augenblicke und Stunden, die wir als Ehepaar erleben durften; und auch eine Dankbarkeit gegenüber Gott, dass er nie von unserer Seite gewichen ist, uns durchgetragen hat und mich seine Fürsorge auch heute noch erfahren lässt.
Ich möchte schließen mit einem Lied, das Claudia ein Herzenslied in den letzten Monaten war und das mich in allem Leid festhalten lässt an Gottes Liebe, die uns allen zugesagt ist:
„Meine Hoffnung und meine Freude,
meine Stärke, mein Licht; Christus meine Zuversicht.
Auf dich vertrau‘ ich und fürcht‘ mich nicht!
Auf dich vertrau‘ ich und fürcht‘ mich nicht!“
Michael Erkelenz, Vereinigung vom gemeinsamen Leben