Heinrich Spaemann
(Die Christen und das Volk der Juden, 1966, zit. nach “texte Nr. 7”, Präsenz Verlag 1992)
Israel war und ist das Menschheitsvolk. Es hat sich nie ohne Gott denken können und so auch nicht ohne die ganze Menschheit. Deshalb hat es stellvertretend für alle nach Erlösung Hungernden in Abraham, Moses und den Propheten, in Maria und den Jüngern das Wort aufgenommen, ihm seinen Leib zu bilden begonnen, dessen Glieder dann auch wir Christen aus den Weltvölkern wurden. Stellvertretend ebenso für alle Sünder hat es in seinen Stolzen und Mächtigen damals Jesus gekreuzigt.
Und dürfen wir länger übersehen, daß es wiederum Israel ist, das gleichsam stellvertretend, seiner unwiderruflichen Nähe zu Jesus entsprechend, in unsäglichen Leiden,
die den Weltvölkern erspart bleiben, die Folgen der Sünden getragen hat, mit denen wir alle, Juden und Heiden, Jesus gekreuzigt haben? Das ist die Folge der Sünde: daß der Mensch, der im Hochmut der Sünde Erster sein will, erst Letzter werden muß, um das Heil zu erlangen: daß der Sünder mit Jesus, dem auf Golgatha Letzten der Menschen, erst gekreuzigt werden muß, um mit Ihm aufzuerstehen. Kein Volk der Welt ist Jesus im Leiden so bis zur Kreuzigung ähnlich geworden wie das der Juden. Und Christen haben ihnen dieses Leiden zugefügt und damit auf ihre Weise das Herz ihres Gottes durchbohrt…
Bevor aber der Glaubenstag Israels anbricht, bevor die Decke von den Herzen der Juden genommen wird, die ihnen heute noch ihren Messias verbirgt, müssen da nicht unsre Augen erst sehend werden, daß wir in diesem Volk wieder den Bruder erkennen und lieben, den älteren Bruder im Erbe Gottes? Kann Israel vorher Gott unseren Vater, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, als den seinen erkennen? Erst die Erkenntnis des Bruders ist Gotteserkenntnis – für ihn wie für uns.
Solange der (Eph 2,14-16) offenbarte Erlösungswille des Herrn, uns, Juden und Heiden, in seiner Person zu dem einen neuen Menschen umzuschaffen, die beiden zu dem einen Leibe zu versöhnen durch das Kreuz, nicht konkret verwirklicht ist, solange wir noch nicht der eine neue Mensch sind, müßten wir Christen aus den Heidenvölkern da nicht sagen: ich bin nur ein halber Mensch? – wie eben ein Bruder sagt, dem der geliebte Bruder noch fehlt, mag er sich auch selbst wieder im Vaterhaus wissen. Gibt es denn eine ungeschmälerte Freude beim Vater ohne den Bruder? Im Gleichnis vom verlorenen Sohn ist ja gerade dies das Zeichen der Verlorenheit beider Söhne, daß der eine sich ohne den anderen freuen will.
Nein, die vollkommene Freude wird nicht eher geschenkt werden, die neue gewandelte Welt wird nicht eher anbrechen, als bis die Versöhnung der beiden in der einen erbarmenden Liebe des Vaters geschehen ist, in der Kirche aus Juden und Heiden. Darum aber auch sicher nicht eher, als bis das Gebet des aus Gnade aufgenommenen Jüngeren für den abseits stehenden Älteren heißes Gebet der ganzen Kirche geworden ist.
An der Stelle, wo wir noch nicht eins sind, da sind wir noch nicht heil. Die tiefste Wunde am Leibe Christi, die Herzwunde, ist nach Eph 2,16 die Gespaltenheit zwischen alt- und neubundlichem Gottesvolk. Schließen wird sie sich erst an dem Tage, da wir einander wieder als Brüder erkennen und lieben.
Israel hat versagt im Glauben an die inkarnierte Liebe. Wir, die aus den Heiden kamen, haben versagt am Zeugnis für sie. Wie wir nun – von Gott im Ungehorsam zusammengeschlossen – beide Gottes Erbarmen brauchen (Röm 11,32), so werden wir auch die Fülle des Erbarmens finden, wenn wir uns von Gott im Gehorsam zusammenschließen lassen. Wir brauchen einander. Finden wir zueinander, dann – dann erst – sind die beiden verlorenen Söhne vollends vom Vater wiedergefunden… so erst wird das Antlitz der Kirche erneuert sein. Es wird das ihrer Urtage sein, das ihrer ersten Liebe, das einer Kirche aus Juden und Heiden.