In unserer Zeit scheinen viele Spannungen eher zuzunehmen und extremer zu werden. In der Region des Nahen Ostens ist das nichts Neues; dennoch sind auch dort neue Zuspitzungen politischer und religiöser Art zu erkennen. Wie kann hier der christliche Glaube standfest sein, um zu einem segensreichen Brückenbauen Wesentliches beizutragen? Wie ein tiefgehendes Verwurzeltsein des Glaubens aussehen kann, durch das Lichtmomente in alledem aufleuchten, davon erzählt dieser Beitrag.

Gott offenbart sich durch sein und in seinem Wort. Er spricht – zunächst zu Einzelnen: zu Adam und Eva, zu Abraham, zu Isaak und Jakob. Und dann geschieht die einmalige Offenbarung an ein unterdrücktes und unbedeutendes Volk, das Gott durch seine Hand aus der Knechtschaft in Ägypten befreit: sein Volk Israel, sein Eigentum. An diese Befreiung denkt Israel jedes Jahr aufs Neue an Pessach. An Shavuot (Pfingsten) feiert es seine Volkwerdung, die durch den Empfang der Thora, der Weisung Gottes, geschieht und die diesem Volk seine Weisheit gab. Darum ist das erste seiner Gebote dieses „Höre, Israel“ (5Mose 6,4).

Wir Christen glauben an das menschgewordene Wort Gottes in Jesus und entdecken, wie er sich mit seinem Heilshandeln an die Feste seines ersterwählten Volkes gebunden hat: Ostern (Pessach) als das Fest der Befreiung aus der Knechtschaft der Sünde; und an Pfingsten (Shavuot) feiern wir die Vollendung seiner Auferstehung in der Ausgießung des Heiligen Geistes. Die noch kleine Gemeinde, die damals nur aus Juden bestand, wurde sozusagen durch die Kraft des Heiligen Geistes mit ihm auferweckt. Und an diesem Tag bildete sich um die Kerngemeinde in Jerusalem eine große Schar von Gläubigen aus vielen Ländern. Das Volk Gottes aus Juden und Gläubigen aus den Völkern wurde geboren. 

Unser Glaube wurzelt tief im Glauben unserer jüdischen Geschwister.

Seit über 40 Jahren lebe ich als zölibatäre Schwester in der ökumenischen Jesus-Bruderschaft. Die Verbindung zum Judentum spielte für mich schon vor meinem Eintritt in unsere Gemeinschaft eine wesentliche Rolle. Darum war es für mich eine besondere Freude, in der Jesus-Bruderschaft dieses Anliegen vorzufinden. Vor einigen Jahren haben wir als Schwesternzweig gemeinsam eine Lebensordnung verabschiedet, aus der ich einige Gedanken wiedergeben möchte:

Jesus – Jeshua

„Unser Logo, die Sinnmitte der Gemeinschaft, zu der du gehörst. Es ist der Mensch Jesus, der Seine Gottheit nicht festhielt, um dein Bruder zu sein. Bruderschaft geht von Ihm aus.

Tritt ein in das Geheimnis Seines Namens. Du kommst in einen weiten Raum, den du nicht ermessen kannst, zur Offenheit der Liebe, durch die das Licht des Himmels fällt.

So wage auch du es, Mensch zu werden, in der Offenheit der Liebe allem und allen gegenüber. Wage es, Misstrauen, Vorbehalte und Angst immer wieder zu durchbrechen in der Liebesgemeinschaft Seines Herzens. Nimm die Armut deines eigenen Menschseins und die der anderen liebend an. Du bist gerufen wie Er, die Hingabe bis in die letzte Tiefe zu leben.

Jesus hat auch auf diese Weise die Armut und Abhängigkeit unseres Menschseins geteilt. Nichts erfüllte Ihn mit größerem Leid als die Friedlosigkeit und Zerrissenheit seines Volkes. Er weinte über Jerusalem, das sich nicht zu Gott hin sammeln lassen wollte. Auch du nimmst teil an der Trauer Jesu um Seinen verwundeten Leib. So wie Er die Sammlung der Seinen niemals erzwungen hat, lerne auch du, mit Ihm zu weinen und zu warten: Der Tröster wird kommen, der allein verbinden kann, was verwundet und getrennt ist.

Als Schwestern Jesu wollen wir dem Leid um Gottes ersterwähltes Volk nicht ausweichen. Die Schuld des deutschen Volkes am jüdischen Volk soll uns in schmerzlicher Erinnerung bleiben. Wir hoffen und beten, dass die Christen ihre innere Verbundenheit mit der jüdischen Wurzel ihres Glaubens erkennen und wahrnehmen. Dieses Anliegen greifen wir im Mittagsgebet auf.“

Wie konkret diese Lebensordnung neu in mein Leben hineinsprechen würde, ahnte ich vor einigen Monaten noch nicht. Durch eine Anfrage aus einem kleinen Krankenhaus in Jerusalem lebe und arbeite ich nun wieder hier in Israel. Vor einigen Wochen, mitten in der Corona-Krise, gedachte Israel der Opfer der Shoa – derMillionen Juden, die in den KZs umgebracht wurden. Ich sammelte die jüdischen Patienten zu einem Moment des Gedenkens im Speiseraum der Krankenstation. Kerzen wurden entzündet, und eine Sirene ließ zwei Minuten lang das Leben im Land stillstehen. Eine der Patientinnen, die 41 Familienangehörige durch die Shoa verloren hatte, weinte. Auch alle anderen hüllte ein bedrückendes Schweigen ein. Da saß ich nun mitten unter ihnen, eine Deutsche. Eine aus dem Land der Täter. Immer wieder erschüttert, dass diese grausame Gewalt aus unserem deutschen Volk hervorgehen konnte. Kurz vor dieser Gedenkzeit sagte mir eine muslimische Mitarbeiterin, dass wir wohl sehr auf der Seite der Israelis stünden, wenn wir solche Gedenkminuten ermöglichten. Ich sagte ihr, wir versuchten, für beide Völker offen zu sein, das arabische und das jüdische, denn sie leiden beide. In solchen Spannungen stehen wir Christen aus Europa hier in Israel.

Da saß ich nun mitten unter ihnen, eine Deutsche. Eine aus dem Land der Täter. Immer wieder erschüttert, dass diese grausame Gewalt aus unserem deutschen Volk hervorgehen konnte

Doch es gibt auch andere ermutigende Stimmen. Ein muslimischer Mann sagte uns einmal, dass dieses Land mit seinen Völkern die Christen aus dem Ausland brauche als Brückenmenschen zwischen den Juden und den Arabern. Und das vielleicht mehr denn je. Die Radikalisierung auf beiden Seiten nimmt zu. Aus meinem Umfeld, dem Krankenhaus, das wie ein Spiegel der Gesellschaft im Kleinen ist, kann ich sagen, dass die Spannung und damit die Anspannung extremer wird. Zum ersten Mal habe ich gehört, dass Christen sich am Arbeitsplatz von Moslems bedroht fühlen, dass es Hass und Misstrauen und Lüge gibt. Da ich vor mehr als zwanzig Jahren schon einmal neun Jahre lang hier lebte, kann ich den Unterschied im Miteinander der Menschen heute schmerzlich wahrnehmen. Nur wenige haben die Kraft, sich einander offen zuzuwenden, einander wirklich zuzuhören. Auch ich weiß manchmal nicht mehr, wem ich vertrauen kann. Oft habe ich den Eindruck, dass jeder um das Überleben seiner eigenen Familie kämpft. Das ist sicher legitim, doch wer sieht das Ganze? Oft vermisse ich die Wärme in den Begegnungen, die mir früher so oft entgegengebracht wurde.

Auch im Miteinander der Christen, das nirgends so vielfältig ist wie in Jerusalem, höre ich von Streit und Spaltung. Und dennoch – mitten darin – gibt es heilige Lichtmomente: Wenn ich sehe, wie der muslimische Krankenpfleger liebevoll den jüdischen Patienten versorgt, wie der jüdische Patient dem arabischen Patienten beim Essen hilft, wie ich mit meiner christlichen Kollegin zusammen beten kann und gestärkt daraus hervorgehe. Wenn ich miterlebe, wie die jungen Volontäre aus Deutschland und Frankreich sich mit so viel Hingabe den Kranken widmen. Das alles sind die kleinen großen Wunder, wie Fenster der Hoffnung.

Durch Umstände, die ich mir nicht gesucht hätte, bin ich wieder in dieses Land zurückgekehrt und sehe darin einen Beitrag zu unserer Berufung der Jesus-Bruderschaft, für die Einheit des Leibes Christi zu beten und zu leben. Sozusagen an der ersten Bruchstelle, zwischen Juden und den Gläubigen aus den Völkern, habe ich neu meinen Platz gefunden. So bleibt auch für mich die herzliche Bitte an Gott: Gib mir ein hörendes Herz, das deinen Willen erkennt und die Kraft findet, ihn dann auch zu tun. Bevor vor einigen Wochen die Grabeskirche geschlossen wurde, betete ich dort noch einmal am leeren Grab und auf Golgatha und hörte tief in mir: „Bleibe, verwurzelt in meiner Liebe!“

Bevor vor einigen Wochen die Grabeskirche geschlossen wurde, betete ich dort noch einmal am leeren Grab und auf Golgatha und hörte tief in mir: „Bleibe, verwurzelt in meiner Liebe!“

Jesus-Bruderschaft Gnadenthal

Die Jesus-Bruderschaft Gnadenthal ist eine kommunitäre Lebensgemeinschaft von zölibatär lebenden Frauen und Männern und von Familien. Die Mitglieder kommen aus unterschiedlichen Kirchen und Konfessionen, denen sie weiterhin angehören. Das Leben in der Kommunität ist geprägt durch Gebet, Gemeinschaft und Arbeit. – Aus dem Selbstverständnis: „Jesus Christus ist der Herr. In seiner Menschwerdung ist er uns Bruder geworden. Er gibt unserem Leben Sinn (Mt 23,8). Seine Liebe zu Gott und den Menschen motiviert uns zu einem Leben in gegenseitiger Verbundenheit (Apg 2,42). Seine Bitte, dass alle eins seien, damit die Welt glauben kann (Joh 17,21), ist auch unser Gebet und fordert uns täglich heraus.“ siehe auch hier