Brigitte Horneber

Die beiden schlichten Fragen: Was sucht ihr? Wo wohnst du? deuten auf eine tiefere Dimension. Schon die Frage Jesu trifft uns existenziell. Was suchen wir zutiefst? Was ist unsere verborgene Sehnsucht? Welches Ziel verfolgen wir? Worauf kommt es mir in meinem Leben an? Wissen wir, was wir bei ihm suchen? Mit seiner Frage öffnet uns Jesus den Blick für das, worauf sein Leben eine Antwort gibt: auf die tiefste Sehnsucht des Menschen.
Wo wohnst du? So antworten Andreas und sein Freund, der hier unbenannt bleibt – womöglich ist es der Evangelist Johannes selbst. Es geht ihnen um mehr als nur darum, die Adresse Jesu zu erfahren. Sie, so heißt es, sind Jünger des Johannes des Täufers. Also zwei, die sich schon aufgemacht hatten, Vertrautes verließen um mit Johannes zu gehen. Damit hatten sie schon einmal einen ungewöhnlichen Schritt gewagt, gezogen von der Hoffnung, dass dieser Prediger in der Wüste Antworten für ihr Leben zeigt. Sie stehen für zwei Suchende voller Erwartung, die wach hinhören auf Johannes und bereit sind, ihr Leben durch seine Botschaft ändern zu lassen? Und jetzt sagt ihnen Johannes, ihr bisheriger Meister, als Jesus vorüber geht: Siehe, das Lamm Gottes (Joh 1, 36). Die beiden hören, schauen und folgten Jesus.

Wo wohnst du? Was schwingt in dieser schlichten Frage doch alles mit! Wo bist du zu Hause? Wo können wir dich finden? Wie lebst du? Wo bist du verortet, beheimatet? Gibt es einen Ort, an dem wir dir nahe kommen dürfen – persönlich und geschützt?

Im Nachsinnen über diese Frage kommen mir zwei Begegnungen in den Sinn, bei denen ich Schüler zu Hause besuchte. Es waren jeweils problematische Situationen, handelte es sich doch um Schüler, die sich kaum in die Klassengemeinschaft einordneten und so uns Kollegen und den Mitschülern auf die Nerven gingen. Mein Interesse galt nicht einem Elterngespräch. Ich wollte die Kinder in ihrem Zuhause erleben, sie besser verstehen, mehr erfassen, was sie prägt und umgibt. „Meine Eltern haben keine Zeit. Die arbeiten. Willst du wirklich nur zu mir?“ so die erstaunte Reaktion bei einem. Mit diesen Besuchen zu Hause veränderte sich unsere Beziehung nachhaltig. Durch diese Begegnungen wurde ein tiefes Vertrauen grundgelegt, das vielen Schwierigkeiten, die noch auf uns zukamen, standhielt.

Jemanden zuhause zu besuchen, öffnet die Tür seines Lebensraumes, hilft uns ihn besser zu verstehen, zeigt etwas von seinem Wesen. Andererseits drückt sich darin auch die Sehnsucht aus nach unserem eigenen Zuhause-sein-Dürfen, dem Ankommen an dem Ort, der mir Heimat gibt. Augustinus findet für diese unsere tiefe Sehnsucht die Worte: „Du hast uns auf dich hin geschaffen und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet, o Gott, in dir.”

Schon im Alten Testament begegnen uns viele Menschen mit der Frage: Wo wohnt Gott? In dem Wunsch, ihm nahe zu sein, suchen sie nach dem Ort, an dem er zu finden ist. Als Mose lange Zeit auf dem Berg ist, in der Gegenwart des lebendigen Gottes, halten es die Israeliten nicht mehr aus. Das Volk fordert von Aaron:Auf, mache uns einen Gott, der vor uns herzieht! (Ex 32, 1) So wird das goldene Kalb gegossen – ein Gott zum Sehen, dessen Aufenthaltsort bekannt ist, der greifbar ist. Sie wollen einen Gott, dessen man habhaft werden kann!

Und Gott geht – anders als sie denken – auf diesen Wunsch ein. Er gibt Mose Anweisungen für das Bundeszelt und wohnt mitten unter seinem Volk. Als es später den Tempel gibt, machen sich immer wieder Menschen auf zu diesem Ort der sichtbaren und zugleich unsichtbaren Gegenwart Gottes, um ihm nahe zu sein. Doch Gott sprengt unsere Vorstellungen über die Räume, an denen er zu finden ist. Im Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen weist Jesus sie darauf hin, dass es einen anderen Ort als den Tempel aus Steinen braucht, um ihm nahe zu sein und ihn anzubeten (vgl. Joh 4, 23).

Kommt und ihr werdet sehen!

So lädt Jesus die beiden Freunde ein. Kommt! Es ist nicht selbstverständlich, diese Einladung freudig anzunehmen. Die zum Hochzeitsmahl Geladenen (Mt 22,5) lehnen ab, haben Wichtigeres zu tun: Jetzt passt es nicht! – Der ältere der beiden Söhne im Gleichnis überlegt, ob er der Bitte des Vaters – Komm herein und feiere mit uns! – folgen soll (Lk 15, 28). Kommt! so rufen die Propheten im Auftrag Gottes und leiden mit Gott unter der Ablehnung des Volkes. Mein Volk verlässt mich, die lebendige Quelle, und gräbt sich Zisternen (Jer 2,13). Die Einladung des lebendigen Gottes zum Wohnen mit ihm wird wieder und wieder ausgeschlagen.

Kommt und seht! Die Einladung ist ausgesprochen. Um wirklich zu sehen, müssen sie dieser Einladung folgen. Jetzt, an diesem Tag, „heute“, sind Andreas und sein Begleiter herausgefordert, ihren Meister Johannes zu verlassen und noch einmal neu einen Schritt zu wagen, diesmal auf Jesus zu. Sie gehen mit und sehen, wo er wohnt, und bleiben jenen Tag bei ihm. Sie erleben einen Tag mit Jesus hinter für uns geschlossenen Türen. Diese persönliche Begegnung mit Jesus geschieht im Verborgen, quasi im geschützten Innenraum. Wir erfahren die genaue Stunde, doch was sich da genau ereignet, wird nicht ausgeführt.

Sie bleiben einen Tag. Ob sie vielleicht gern länger geblieben wären? Petrus reagiert auf dem Berg der Verklärung so: Meister, hier ist gut sein, lass uns drei Hütten bauen (Mt 17,4). Ich kenne Orte, an denen ich gerne Hütten bauen würde, um zu bleiben, festzuhalten, die Zeit anzuhalten und wie gut, dass es solche Orte gibt. Aber erliegen wir nicht oft der Gefahr, uns einzurichten? In dem Wissen, hier ist es gut sein, getragen von der Erfahrung: Hier darf ich ganz ich sein, hier treffe ich Menschen, die mir Heimat werden, da bin ich angekommen. Ist es nicht immer wieder unsere Versuchung, diese Orte mit Mauern zu umgeben, sie festzuhalten, unseren Tempel zu bauen – innerlich und äußerlich? Erleben wir nicht mitunter, wie die eigene Gotteserfahrung uns zum Maßstab werden kann, den wir an andere anlegen, wie das Kostbarste – zementiert und festgehalten – zum Grund der Trennung wird?

Vor Jahren begegnete mir, als wir ein Stück auf dem Jakobsweg pilgerten, ein Wort, das zunächst ganz quer erschien und sich vielleicht gerade deshalb einprägte: „Zu Haus bin ich dort, wo ich bleib, wenn ich geh.“ Unsere Versuchung, einen Ort zu suchen und nicht mehr aufzubrechen zur Nachfolge, ist groß.
Sie bleiben einen Tag. Am nächsten Morgen trifft Andreas seinen Bruder und teilt ihm seine Erfahrung mit. Und hier heißt es nicht: Wir wissen, wo der Rabbi wohnt, wir haben seine Adresse, wir können dir beschreiben, wie er eingerichtet ist, wir können dir sagen, in wessen Nachbarschaft er lebt, welche Bücher er liest… Die Antwort ist eindeutig: Wir haben den Messias gefunden. – Wir haben den von Gott zur Erlösung aller Menschen Gesandten gefunden, den Sohn Gottes. Wir sind ihm begegnet. Das verändert alles. Nicht der Ort ist entscheidend, ER ist es. Es geht um ihn. Der Ort der Gegenwart Gottes auf Erden ist der von Gott ausgegangene Sohn. In ihm sind wir zu Hause angekommen.

Und jetzt? Jesus folgen! Sich rufen lassen! Mitgehen! Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein! (Joh 12,26)

Wo wohnst du?

Jesu Wohnorte in dieser Welt sind verschieden. Der erste ist der Stall in Bethlehem – eine Notlösung, weil für ihn kein Platz vorhanden war. Dann das Exil in Ägypten – eine Flüchtlingsunterkunft. Schließlich gibt Jesus dem, der ihm nachfolgen will die Antwort: Die Füchse haben Gruben, die Vögel haben Nester, des Menschen Sohn hat keinen Ort, da er sein Haupt hinlegt (Mt 8, 20). Und am Ende hat er nicht einmal ein Grab.

In einem Lied heißt es: „Gott wohnt, wo man ihn einlässt.” Siehe ich stehe vor der Tür uns klopfe an (Offb 3, 20). Und es ist seine eindringliche Bitte bis heute. Findet er Wohnraum unter den Seinen? So ist sein erster Wohnort, noch vor dem Stall in Bethlehem, Maria, die Frau, die ganz bereit ist. Sie lässt geschehen, sagt Ja zu einem Weg, dessen Folgen sie nicht ahnt. Ist es nicht immer wieder seine Frage: Wo finde ich Wohnraum mitten in dieser Zeit? Wo darf ich ihn gestalten und ausfüllen, wie es mir entspricht?
Bleibt uns die Bitte, wie sie Hans Graf von Lehndorff in seinem Lied „Komm in unsre stolze Welt”  formulierte:
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Komm in unser festes Haus,
der du nackt und ungeborgen.
Mach ein leichtes Zelt daraus,
das uns deckt kaum bis zum Morgen;
denn wer sicher wohnt, vergisst,
dass er auf dem Weg noch ist.
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(Evang.Gesangbuch Nr. 428)