Walter Goll, Ottmaring
Es ist schon lange her, aber ich kann mich noch an Einzelheiten erinnern. Es war in Jerusalem. Kurz vor der Rückreise hatte ich noch die Gelegenheit, an einer Osternachtfeier teilzunehmen. Über die Kirche, in der sie stattfand, wusste ich nur wenig Bescheid. Eines war klar: Es war eine orthodoxe Kirche.
Frühmorgens gingen wir im Dunkeln durch Jerusalems Gassen und erreichten das Kirchengebäude. Irgendwie fremd war mir die ganze Sache schon, nicht nur wegen der anderen Sprache. Im dunklen Kirchenraum waren vielleicht hundert Personen versammelt. Es gab ein paar Männer in feierlichen Gewändern. Jeder der Gottesdienstbesucher bekam eine Kerze in die Hand. So standen wir in dieser geheimnisvoll anmutenden Gemeinschaft.
Was nun im Einzelnen geschah, das kann ich nicht mehr so genau schildern. Auf jeden Fall wurde Einiges gelesen, gebetet und gesungen. Mal waren die kirchlichen Diener im Mittelpunkt, mal gab es einen Dialog zwischen ihnen und der Gemeinde. Irgendwann wurden die Kerzen angezündet. Eine frohe Erwartung machte sich breit. Es war nun nicht mehr so dunkel wie zuvor. Dennoch blieb es noch düster, jedenfalls brannte kein sonstiges Licht und die Nacht war noch nicht herum.
Diese Zeremonie dauerte bestimmt eine Stunde lang. Dann kam etwas in Gang, das mit viel Aufregung verbunden war. Auf der mir gegenüberliegenden Seite des Raums gab es eine große Türe. Bis dahin hatte ich die noch gar nicht wahrgenommen. Aber jetzt konzentrierte sich das Geschehen darauf. Was würde es mit dieser Türe auf sich haben? Was kommt jetzt noch?
Gespannt schaute ich dorthin. Ein Drama spielte sich dort ab. Jemand wollte die Türe öffnen, um in den dahinter liegenden Raum zu gelangen. Ein Lichtschein drang kurz in unseren dunklen Raum. Die Türe wurde aber gleich wieder zugeschlagen. Irgend jemand wollte es offensichtlich nicht zulassen, dass diese Türe geöffnet wird. Es gab einen weiteren Versuch – erneut vergeblich. Ob es nun beim dritten oder gar erst beim vierten Versuch ganz anders wurde, weiß ich heute nicht mehr.
Irgendwie blickte ich plötzlich durch: In diesem Geschehen war symbolisch dargestellt, wie der Satan das Öffnen der Türe verhindern wollte! Aber letztendlich war sein Bemühen vergeblich. Mit dem Hinweis auf das Kreuz und dem lauten Nennen des Namens Jesu blieb dem Feind nichts Anderes mehr übrig, als zu weichen und den Weg freizumachen! Er hatte keinerlei Recht mehr angesichts des Sieges Jesu durch seinen Opfertod, um die Gläubigen aufzuhalten. Die Türe wurde weit geöffnet – und dann, ja dann… Es ist eigentlich nicht zu beschreiben, was dann geschah.
Mit dem Öffnen dieser mächtigen Türe flutete plötzlich ein lichtvoller Glanz in die Dunkelheit und wir alle, die schon so gespannt darauf gewartet hatten, was da geschehen wird, durften hinein in diesen so viel größeren und unbeschreiblich herrlichen Kirchenraum! Es glänzte himmlisch und prächtig, alles war hell erleuchtet, wunderbare goldene Leuchter und Wände mit schönen Bildern und vielerlei kunstvoll verzierten Gegenständen verdichteten sich zu einem Erlebnis wahrer Osterfreude: „Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!“ Von diesem Jubel legten machtvolle Gesänge Zeugnis ab und eine zuvor nicht vorstellbare Freude konnte sich Bahn brechen nach all dem vorangegangenen Dunkel und den darin verborgenen sehnlichen Erwartungen nach Erlösung. Jetzt ging es eigentlich erst richtig los mit dem Feiern und Beten – und es schien kein Ende nehmen zu wollen. Die ganze Christenheit aller Zeiten schien gegenwärtig zu sein, um miteinander in den Osterjubel einzustimmen inmitten der himmlischen Herrlichkeit!
Tatsächlich mussten wir vorzeitig das himmlische Getöse und Geschehen verlassen, sonst wären wir nicht mehr rechtzeitig zum Flughafen gekommen. Mit dem Erlebten im Herzen war aber nun wirklich Ostern geworden. Welch ein Schatz ist in diesem gottesdienstlichen Erleben festgehalten! Welch ein Reichtum ist auf diese Weise in der Kirche präsent und bewahrt worden bis heute.