Brigitte Horneber

Schlüssel zum gereiften Menschsein

Kennst du reife Persönlichkeiten?„, so traf mich vor Kurzem in einer Runde ganz unerwartet eine Frage. Ist das überhaupt eine Frage, dort wo wir als erfahrene, gestandene Christen zusammen kommen? Gehört Reife nicht zum natürlichen Prozess unseres Lebens, bei dem wir eben wie selbstverständlich heran reifen zum vollen Mannesalter in Christus (Eph 4,13)? Viele weitere Fragen kamen in mir hoch. Dennoch sagte ich nach kurzem Bedenken: „Ja, ich kenne reife Persönlichkeiten, aber die sind schon gestorben.“
Was verbinde ich mit dem Begriff „reife Persönlichkeit“? Gibt es da etwas im Leben dieser Personen, das mich nachhaltig beeindruckt, ja Vorbildcharakter zeigt, sodass sie mir sofort in den Sinn kamen?
Seitdem geht diese Frage mit mir und fordert mich heraus, wachsam nach Bedingungen für Reife Ausschau zu halten. In einer Betrachtung zu diesem Thema von Bruder Gotthilf Haug (1875-1951) heißt es in diesem Sinn:

„Der reife Mensch zeigt in seinem inneren Wesen und in seiner äußeren Art ein ganz bestimmtes Gepräge: Er ist zum Abbild des einen ewigen Gottes geworden, dem er angeschlossen ist und in den er in Ewigkeit eingehen wird. Er ist ein Mensch der Ewigkeit, die durch ihn wirkt. Darum lehrt er nicht, er regiert nicht. Er ist nur, was er ist. Wenn er da ist, so genügt das. Das ist sein Einfluss auf alle und alles. So trägt er alles und hält alles in Gott zusammen. Wo ein solcher erscheint, ist immer Himmel. Das Licht der Ewigkeit fällt auf die Menschen, die sich ihm zuwenden. Er drängt sich nicht auf. Er ist still, arm und gering, dienend und unscheinbar, in der Zuwendung aber wird er groß und umfassend.“

Im Leben Jesu wird dies anschaubar.

An Jesus sehen wir, wie sich dieser Reifungsweg gestaltet. Er gleicht einer Gratwanderung. Es ist nicht der Weg nach oben zu Ansehen und größerem Erfolg. Von Jesus heißt es einerseits: Obwohl er Gott ist, nahm er Knechtsgestalt an, er verzichtete darauf, Gott zu sein und wurde Mensch, in allem den Menschen gleich. So nahm er Verachtung, nicht Verstandenwerden und Anfeindung in Kauf, ja er war gehorsam, sogar als es sein Leben kostete, gehorsam bis zum Tod am Kreuz (Phil 2).
Jesus ist damit nicht der willenlose Knecht, der sich lethargisch herum schupsen lässt oder alles schicksalhaft über sich ergehen lässt. Sondern in wachem Bewusstsein entscheidet er sich für diesen Weg. So sagt Jesus zu seinen Jüngern, nachdem er ihnen wie ein Knecht die Füße gewaschen hat: Ihr nennt mich Meister und Herr, und mit Recht sagt ihr das, denn ich bin es. Aus diesem Wissen heraus, wer er ist, in seiner Würde als Gottessohn, neigt er sich herab und dient (vgl. Joh 13). Freiwillig, ganz bereit den Willen des Vaters zu erfüllen, lässt er passiv und doch in höchster Aktivität geschehen, was kommt – bis zum Tod am Kreuz.

Hier werden unsere Maßstäbe durchkreuzt und doch verbirgt sich genau darin der Weg zu Heil und Frieden, der Weg Gottes.
In reifen Persönlichkeiten, mögen sie jung sein oder alt an Jahren, Frauen oder Männer, spiegelt sich etwas von dieser Christusgesinnung. Es sind keine Idealmenschen ohne Fehler, keine, die ihre Originalität verlieren. Manchmal erlebte ich sie kauzig, merkwürdig, und entdeckte doch in ihnen etwas von diesem Geheimnis des Christuslebens.

Drei Erfahrungen

Pater Cyrill

Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, ist er über 75. Was ich bereits im Vorfeld über ihn hörte, lässt mich gespannt sein. „Er ist besonders streng zu Frauen. Er erkennt schnell den wunden Punkt und legt den Finger darauf. Er lässt nicht locker. Er lebt aus einer großen Jesusliebe, in unendlichem (kindlichem) Vertrauen.“ Nun kam ich zu dieser Begegnung nicht mit einem eigenen Anliegen, sondern in Begleitung, nur als Besucherin. Ich saß bei dem Gespräch eher beobachtend am Rande dabei und war gefangen von den sprühenden, lebendigen Augen, die etwas von einer spitzbübischen Unberechenbarkeit ahnen ließen. In den wenigen Sätzen, in denen ich ins Gespräch einbezogen war, ging es schnell um ein für mich damals brennendes Thema. Seine Art mit wenigen Worten so herauszufordern, dass am Ende des Gespräches vor allem eine frohe Gelassenheit blieb, mehr noch ein Gespanntsein auf die Überraschungen Gottes, ermutigten für weitere Gespräche. Und es folgten viele. Dabei bestätigten sich alle Vorhersagen, und ich lernte einen liebenswerten, kauzigen Menschen kennen, unbequem, mit manchen Ecken und Kanten. Er beantwortete nicht alle meine Fragen, doch wendete er alles daran, mich auf den lebendigen, gegenwärtigen Gott hinzuweisen, weitherzig alles Wesentliche von Gott zu erwarten und in allem, was geschieht, seinen Willen zu glauben.
Die Reife in diesem Leben zeigte sich mir im Loslassen. Werbend lud er ein, das Eigene zu lassen, um im Freiwerden von eigenen Vorstellungen, Erwartungen und Befürchtungen immer gelassener zu werden. So zu einer Gelassenheit zu finden, die in dem lebendigen Vertrauen wurzelt, dass Gott da ist. Anzukommen in der Gegenwart Gottes und hochaktiv auf seinen Wink zu warten, ist genug.

Hans

Bei der ersten Begrüßung nahm er freundlich lächelnd meine Hand, mit dem schlichten Gruß: „Ich freu mich, dass du da bist.“ Doch so schnell nahm ich ihm das nicht ab. Schließlich kannte er mich noch gar nicht. Noch blieb ich misstrauisch, wollte erst mal schauen, was hier so sein würde und wie lange die Freude wohl währte. Bei aller Vorsicht setzte sich jedoch dieser erste Eindruck hartnäckig fest: Er meint, was er sagt. Auch hier folgten viele Begegnungen. Er der Lehrer, ich die Schülerin, überzeugt nicht zu den „Besten“ zu gehören. Ich lernte ihn kennen als welterfahrenen, weitgereisten Menschen, in anderen Kontinenten und Kulturen zuhause, viele lehrend. Staunend erlebte ich ihn im Umgang mit Einzelnen klar und barmherzig, aufdeckend und schützend. Es kostete immer neu Mut, schützende Decken abzulegen und einfach nur die zu sein, die ich bin. Und doch war dies in seiner Gegenwart möglich und geschah immer getragen von seinem unbesiegbaren Wohlwollen. Der Mensch als Sünder und Gottesgeschöpf, gewöhnlich und voll Würde – das war hier eins. Dass der reife Mensch immer mehr zu einem wird, der schuld- und vergebungsfähig, leidens- und genussfähig und so liebesfähig wird, konnte ich ihm abspüren.

Im Gespräch mit anderen erfuhr ich auch, dass sie in Begegnungen mit Hans Bestimmendes, ja Bedrohliches erlebten, was ich nur schwer nachvollziehen konnte. Seine Reife wirkte nicht auf alle gleich freisetzend. Manchmal erlebte ich mit, wie er selbst darunter litt und doch die eigenen Grenzen annahm. Gerade in diesem Ja zum anderen, aber auch zu den eigenen Grenzen, der jeweils eigenen Geschichte, zeigten sich Reife und Weisheit.

Heinz

Eine lange gemeinsame Wegstrecke waren wir gegangen. Da war vieles, was uns verband: die Liebe zu und das Leiden an unserer Kirchengemeinde, der gemeinsame Dienst dort, die Familie. Oft erfuhr ich die hilfreiche und kritische Unterstützung in den Gesprächen, stets das wachsam hörende Ohr. Immer wurde ich ermutigt und erlebte ein großes Zutrauen, auch wo ich selbst sehr zögerlich war. Und irgendwann kam es zu der Enttäuschung, durch die er von dem Sockel stürzte, auf den ich ihn gestellt hatte. Das veränderte zunächst unsere Beziehung: Distanz trat auf, was für uns beide schmerzlich war. Doch ist in vielen Gesprächen neu Vertrauen gewachsen, wurde auf die Probe gestellt und bewährte sich. Für mich geschah in diesem Prozess Wesentliches: Wir hatten gelernt, uns auf Augenhöhe zu begegnen, trotz vieler Jahre, die zwischen uns lagen. Nicht immer waren wir gleicher Meinung, doch das trübte die Einheit zwischen uns nicht. Es gab Erwartungen und Wünsche an eine gemeinsame Aufgabe, eine gemeinsame Zukunft vor Ort. Und dann, nach elf Jahren intensiven gemeinsamen Lebens, entschieden mein Mann und ich, wegzugehen. Ungehorsam? Führung? Jedenfalls schmerzlich. Es war klar, dass dies bei ihm als Enttäuschung und Verlust ankommen musste. Hier erfuhr ich, was es bedeutet, den anderen vor Gott wirklich freizulassen. Schon beim Umzug unterstützte er uns kräftig. Wir erlebten, dass er uns wirklich freigeben konnte für das, was wir als das Unsere erkannten, und er bereit wurde, seine Überzeugung loszulassen. Diesen inneren Prozess mitzuerleben und darüber miteinander im Gespräch zu sein, auch die Trauer auszusprechen, hat letztlich unsere Verbundenheit vertieft. In den Jahren danach war er einfach da, in Rufweite, wenn wir ihn brauchten. Stets wach und interessiert begleitete er uns. In ihm begegnete ich einem großen „Für“, konnte mir seines Rates und Gebetes sicher sein. Diese Haltung des „Dennoch“ bewegt mich bis heute.