„Dein Blut komme über ALLE MENSCHEN, an ALLEN ORTEN, in ALLEN STÄNDEN, mit ALLEN ihren ANLIEGEN gnädiglich.“
Walter Goll
Wenn der Böcke und der Ochsen Blut und die Asche von der Kuh, gesprengt auf die Unreinen, sie heiligt zu der leiblichen Reinigkeit, wieviel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst als ein Opfer ohne Fehl durch den ewigen Geist Gottes dargebracht hat, unser Gewissen reinigen von den toten Werken, zu dienen dem lebendigen Gott.
Hebr 9,13f
Beten für alle Menschen, noch mehr, die in Christus bereits geschehene Erlösung in Verbindung bringen mit allen Menschen, ohne jegliche Ausnahme – das ist die Absicht dieses Abschnitts des Einheitsgebetes. Ist das ein realistisches Anliegen, praktikabel und sinnvoll? Sind das einfach nur fromme Wünsche?
Aller Menschen in dieser Weise persönlich zu gedenken, das ist freilich nicht machbar. Bei unserem Beten kommt es jedoch darauf an, immer mehr hineinzuwachsen in eine Sicht der Dinge und Geschehnisse, die der Sicht Gottes entspricht. Und die ist uns im Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift und auch in einzelnen Aussagen deutlich geoffenbart.
Der Apostel Paulus fordert seinen Glaubenssohn Timotheus und somit auch uns in eindeutiger Weise zu diesem Dienst des Betens für alle Menschen auf: „Vor allem fordere ich zu Bitten und Gebeten, zu Fürbitte und Danksagung auf, und zwar für alle Menschen“ (1.Tim 2,1). Die Aufforderung, hierbei alle Menschen einzuschließen und dies als erste Priorität – „vor allem“ – zu tun, findet ihre Begründung darin, was Paulus ausdrücklich als Gottes Willen bezeichnet: „Er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“ (1Tim1,4). Schon allein der schlichte Gehorsam gegen den Willen Gottes bringt uns also dazu, trotz aller menschlichen Begrenztheit dem nachzukommen und somit wirklich aller Menschen betend zu gedenken.
Der schlichte Gehorsam wird in dem Maß zu unserer eigenen Liebesabsicht, in dem wir uns in die Liebe Gottes versenken, die ja durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen ist (Röm 5,5). So kann sich auch im gehorsamen Beten dessen, was im Einheitsgebet oder auch in anderen umfassenden Gebeten vorformuliert ist, die Liebe immer wieder neu entzünden und sich in die Liebesgedanken und – absichten Gottes hinein begeben. So, wie Paulus und Timotheus bezeugen: „Denn die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben…“ (2 Kor 5,14), so will auch uns die Liebe Christi zu diesem Dienst der Versöhnung drängen, ja geradezu freiwillig verpflichten.
Da, wo nicht mehr alle Menschen in diesem Sinne in den Blick geraten oder wo dieses Gebet nur noch zu einer leblosen Gewohnheit wird, da droht die Gleichgültigkeit. Ein – wenn vielleicht auch nur theoretisches und unbewusstes – Aussortieren derer, die eines Gebetes in diesem Sinne würdig oder unwürdig sind oder zu sein scheinen, ist ein Zeichen mangelnder Identifikation mit der Liebe Gottes. Ihm ist niemand jemals gleichgültig, „Denn es hat Gott wohl gefallen, dass in ihm“ (in Christus) „alle Fülle wohnen sollte und er durch ihn alles mit sich versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz“ (Kol 1,19+20; Luther).
[[Elie Wiesel]], Friedens-Nobelpreisträger, der Auschwitz überlebte, schreibt einmal: „Ich glaube, die größte Quelle der Gefahr in unserer Welt ist die Gleichgültigkeit. Ich war immer der Meinung, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Leben ist nicht Tod, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Frieden ist nicht Krieg, sondern Gleichgültigkeit.“ (OJC-Freundesbrief Nr. 149, 2/94, S. 68). Zur Gleichgültigkeit kann in unserer Zeit auch die Fülle der Informationen und Nachrichten beitragen, die uns unaufhörlich mit einem nicht zu fassenden Maß an Not und Problemen konfrontiert.
Um bei all dem nicht abzustumpfen, bleibt uns letztlich stets nur der vermehrte und vertiefte Blick auf den dreieinigen Gott. Im Anschauen seines Bildes, im Betrachten des bereits in vollkommener Weise vollbrachten Erlösungswerkes für den ganzen Kosmos, im Bedenken der Passion des Menschen- und Gottessohnes werden wir verwandelt in sein Bild, in sein Wesen und dann auch fähig, unseren Blick durch ihn hindurch auf all die Menschen zu richten, die uns im Alltag begegnen, die zu unserer Verwandtschaft und Bekanntschaft zählen, die in der Nähe und in der Ferne sind, die uns lieb oder feind sind, die uns bekannt oder fremd erscheinen, sei es ihrer Abstammung, ihrem Lebensstil oder auch ihrem Verhalten nach.
Der anbetende Blick auf Jesus kann und darf uns in die Lage versetzen, neben den bekannten und uns naheliegenden Anliegen der Menschen uns auch für diejenigen zu interessieren und sie im Gebet mit ihm in Verbindung zu bringen, die uns aus verschiedenen Gründen eher fern scheinen – seien es die Wissenschaftler, die in der Genforschung tätig sind; seien es die Manager von Pharmakonzernen, die durch die Gentechnik unerhörte wirtschaftliche Erfolge wittern; seien es die Mediziner, die anhand atemberaubender Fortschritte vor immer schwieriger werdende Fragen angesichts der Grenze zwischen Leben und Tod stehen; seien es Jugendliche, die wurzel- und haltlos ihren Weg suchen müssen; seien es Kinder, die unter unwürdigsten Umständen auf der Straße ihr Überleben sichern müssen; seien es alte Menschen, deren Einsamkeit und Trostlosigkeit in lähmende Lethargie umschlägt; seien es die Opfer sinnloser Gewalt – und die Täter; seien es Politiker und andere wichtige Entscheidungsträger angesichts der Komplexität der anstehenden Probleme; sei es der ganz normale Familienvater im übernächsten Haus; sei es die Kollegin, die sich zu Recht über eine Äußerung von mir ärgern muss…
Von der Erlösung durch Christi Blut ist nichts und niemand ausgeschlossen, allen und allem gilt sie ausnahmslos. Würde an ihr noch ein Stückchen fehlen oder würde ihre faktische Auswirkung nur soweit gehen, wie wir sie heute vordergründig wahrnehmen, dann wäre Jesu Wort am Kreuz „Es ist vollbracht!“ unglaubwürdig. Nein, an der Erlösung fehlt nichts mehr, ein für allemal. Es fehlt nur noch daran, dass sie von denen, denen die Augen dafür geöffnet wurden, bezeugt wird. Dieses Bezeugen geschieht auch in der Art, dass wir „von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch“ kennen (2Kor 5,16; Luther), dass wir jedermann mit dieser neuen Sicht der Liebe Gottes begegnen und Segnende werden. Die Vollendung der Erlösung geschieht in der Ordnung der Haushaltungen Gottes (siehe u.a. 1Kor 15,20ff) und wird vorangebracht durch sein Wirken in denen, die die Erlösung im Glauben ergriffen haben, und zwar für „alle Menschen, an allen Orten, in allen Ständen, mit allen ihren Anliegen“.