In beklemmender Wahrhaftigkeit wird in diesen Gedanken aus dem Jahr 1969, die nach wie vor aktuell sind, die Wirklichkeit unserer Zeit beschrieben. Vielleicht sind es heute noch tiefere Abgründe, die sich auftun, und noch schlimmere Stürme, die uns bedrohen. Und doch lässt sich darin das Geheimnis des Glaubens erahnen, ja erkennen, in dem wir die Grenzen und den Abgrund des Todes in Christus überwunden wissen. 

Das Wort vom Tod Gottes geistert immer lauter durch unsere Zeit. Zuerst, bei Jean Paul 1, ist es nur wie ein Albtraum: Der tote Jesus verkündet vom Dach der Welt aus den Toten, dass er bei seiner Fahrt ins Jenseits nichts gefunden habe – keinen Himmel, keinen vergeltenden Gott, nur das endlose Nichts, das Schweigen der gähnenden Leere. Noch ist es nur ein Schrecktraum, den man ächzend im Erwachen als Traum beiseiteschiebt, wenngleich die einmal erlittene Angst, die immer schon dumpf auf dem Grund der Seele lauerte, nie mehr gänzlich weichen will. Hundert Jahre später, bei Nietzsche, ist es tödlicher Ernst, der sich in einem gellenden Schrei des Entsetzens äußert: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!“ 2 Inzwischen, weitere fünfzig Jahre später, spricht man schon fast mit akademischer Gelassenheit darüber und fängt an, sich auf eine „Theologie nach dem Tode Gottes“ einzurichten, sieht sich um, wie es weitergehen mag, und ermutigt den Menschen, sich darauf vorzubereiten, als Stellvertreter Gottes einzuspringen. 3

Das erschreckende Geheimnis des Karsamstags, sein Abgrund an Schweigen, hat damit eine bedrängende Wirklichkeit in unserer Gegenwart erhalten. Denn dies ist Karsamstag: Tag der Verborgenheit Gottes, Tag jener ungeheuren Paradoxie, die wir im Glaubensbekenntnis aussprechen mit den Worten „abgestiegen zu der Hölle“ 4, abgestiegen ins Mysterium des Todes hinein. Am Karfreitag konnten wir noch auf den Durchbohrten hinblicken. Der Karsamstag aber ist leer, der schwere Stein des frischen Grabes deckt den Verstorbenen, alles ist vorüber, der Glaube scheint definitiv als Schwärmerei enthüllt. Kein Gott hat diesen Jesus gerettet, der sich Sohn Gottes nannte. Man kann beruhigt sein; die Nüchternen, die vorher im Geheimen doch ein wenig geschwankt hatten, ob vielleicht etwas anderes sei, sie haben recht behalten.

Das erschreckende Geheimnis des Karsamstags, sein Abgrund an Schweigen, hat damit eine bedrängende Wirklichkeit in unserer Gegenwart erhalten.

Karsamstag, Tag des Begräbnisses Gottes – ist das nicht auf eine unheimliche Weise unser Tag? Fängt unser Jahrhundert nicht an, zu einem großen Karsamstag zu werden, einem Tag der Abwesenheit Gottes, an dem auch den Jüngern eine eisige Leere ins Herz steigt, so dass sie sich beschämt und verängstigt zum Heimweg rüsten und sich auf ihrem Emmaus-Gang dumpf und verstört in ihre Hoffnungslosigkeit hineinbohren, gar nicht bemerkend, dass der Totgeglaubte in ihrer Mitte ist? „Gott ist tot, und wir haben ihn getötet.“ Haben wir eigentlich bemerkt, dass dieser Satz fast wörtlich der Sprache der christlichen Überlieferung entnommen ist, dass wir oft genug in unseren Kreuzweggebeten schon Ähnliches gelallt haben, ohne den erschreckenden Ernst, die unheimliche Wirklichkeit des Gesagten zu gewahren? Wir haben ihn getötet, indem wir ihn ins Gehäuse veralteter Denkgewohnheiten einschlossen, indem wir ihn in eine Frömmigkeit verbannten, die wirklichkeitslos war und immer mehr zur devotionellen Phrase 5  oder zur archäologischen Kostbarkeit wurde. Wir haben ihn getötet durch die Zweideutigkeit unseres Lebens, die ihn selbst verdunkelte, denn was könnte Gott fragwürdiger machen in dieser Welt als die Fragwürdigkeit des Glaubens und der Liebe seiner Gläubigen?

Die Gottesfinsternis dieses Tages, dieses Jahrhunderts, das mehr und mehr zum Karsamstag wird, redet uns ins Gewissen. Sie hat auch mit uns zu tun. Aber sie hat trotz allem etwas Tröstendes an sich. Denn Gottes Sterben in Jesus Christus ist zugleich Ausdruck seiner radikalen Solidarität mit uns. Das dunkelste Geheimnis des Glaubens ist zugleich das hellste Zeichen einer Hoffnung, die ohne Grenzen ist. Und noch eines: Erst durch das Scheitern des Karfreitags, erst durch die Todesstille des Karsamstags hindurch konnten die Jünger zum Begreifen dessen geführt werden, wer Jesus wirklich war, was seine Botschaft in Wahrheit meinte. Gott musste sterben für sie, damit er wahrhaft leben konnte in ihnen. Ihr Bild, das sie von Gott geformt hatten, in das sie ihn einzuzwängen versuchten, musste zerstört werden, damit sie über den Trümmern des zerstörten Hauses den Himmel sehen konnten, ihn selbst, der immer der unendlich Größere bleibt.

Wir brauchen die Gottesfinsternis, wir brauchen das Schweigen Gottes, um wieder den Abgrund seiner Größe zu erfahren, den Abgrund unserer Nichtigkeit, der sich auftun würde, wenn er nicht wäre.

Es gibt im Evangelium eine Szene, die auf erregende Art das Schweigen des Karsamstags vorwegnimmt und so zugleich noch einmal wie ein Portrait unserer geschichtlichen Stunde erscheint. Christus schläft in einem Boot, das vom Sturm gepeitscht dabei ist zu versinken. Der Prophet Elias hatte einst die Baalspriester, die vergebens lautstark zu ihrem Gott um Feuer für das Opfer schrien, verhöhnt, ihr Gott schlafe wohl, und man müsse vielleicht noch lauter rufen, um ihn aufzuwecken. Aber schläft Gott nicht wirklich? Trifft der Hohn des Propheten nicht zuletzt die Gläubigen des Gottes Israels, die mit ihm in einem versinkenden Boot fahren? Gott schläft, während seine Sache am Versinken ist – ist das nicht die Erfahrung unseres eigenen Lebens? Scheint die Kirche, scheint der Glaube nicht wie ein versinkendes kleines Schiff, das vergebens gegen Wind und Wellen kämpft, während Gott abwesend ist?

Jahreslosung 2020:

„Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ 

Markus 9,24

Die Jünger rütteln und schreien in äußerster Verzweiflung den Herrn wach – er aber scheint erstaunt und schilt sie kleingläubig. Nun, geht es uns anders? Wenn der Sturm vorüber sein wird, werden wir erkennen, wie töricht unser Kleinglaube war. Und dennoch, Herr, wir können nicht anders, als dich, den schweigenden, schlafenden Gott rütteln, zu dir schreien: „Wach auf! Siehst du denn nicht, dass wir versinken? Wach auf, lass die Dunkelheit des Karsamstags nicht endlos sein, lass einen Strahl von Ostern auch in unsere Tage fallen, geh mit uns, wenn wir hoffnungslos nach Emmaus wandern, dass unser Herz uns brennend werde von deiner Nähe! Der du Israels Wege verborgen geleitet hast, um endlich Mensch mit uns Menschen zu sein: Lass uns nicht im Dunkel, lass dein Wort in der Geschwätzigkeit dieser Tage nicht untergehen. Herr, hilf uns, denn ohne dich müssten wir zugrunde gehen. Amen.“ 6

Fussnoten[+]