Michael Decker

Kennen wir Jesus? Die Antwort hat zwei wahre Seiten: Ja, wir kennen und lieben ihn immer mehr! – Und: Nein, er überrascht uns immer wieder, auch wenn wir schon oft im Evangelium gelesen haben. Mit Jesus werden wir nicht ‘fertig‘. Auch wer das Leben Jesu gut kennt, schreitet doch immer tiefer hinein in sein unausschöpfliches Geheimnis. Jesus hat mit seinem Leben und Sterben die Welt vom Himmel her erschüttert. Er lehrt uns, wie Gott in dieser Schöpfung herrschen will. Seine Person zeigt uns, wie Gott sein Reich unter uns baut.

Jesu Worte und Predigten wirkten. Die Menschen entsetzten sich. „Noch nie hat ein Mensch so geredet wie dieser“ (Joh 7,46), sagten sie.
Mehrmals wird im Evangelium davon berichtet, dass die Leute hoch erstaunt waren, wenn Jesus seine Rede beendete: „Sie waren außer sich über seine Lehre; denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten“ (Mt 7,29). Worüber erschrak das Volk? Vielleicht konnte Jesus zündende Reden halten. Vielleicht redete er laut oder eindringlich zu seinen Zuhörern. Doch mehr als die Redegewandtheit wirkten sein Anspruch und seine Autorität. Jesus redete nicht als überragende menschliche Persönlichkeit; er trat zu den Menschen und handelte unter ihnen als menschgewordener Gottessohn.
Als Gegner ihm deswegen Anmaßung vorwarfen, antwortete er: „Ich suche nicht meine Ehre… Es ist mein Vater, der mich ehrt… Ihr kennt ihn nicht; ich aber kenne ihn und halte sein Wort. Abraham, euer Vater, wurde froh, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich.“ Da sprachen sie zu ihm: „Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt und hast Abraham gesehen?“ Jesus antwortete: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham wurde, bin ich.“ – Da hoben sie Steine auf, um auf ihn zu werfen. Jesus aber verbarg sich und ging zum Tempel hinaus
(vgl. Joh 8, 46ff).

Folge mir nach!

Jesus begegnete den Menschen mit göttlichem Anspruch. Er sprach zu ihnen nicht nur von Gott. Er sprach als Sohn des Vaters. Jesus war die Stimme Gottes. Entweder hielten sie ihn deshalb für einen Gotteslästerer und versuchten, ihn zum Schweigen bringen. Oder sie mussten akzeptieren, dass in Jesus Gott selbst zu ihnen trat.
In einer ganz klaren und zugleich liebenswürdigen Weise kommt dieser Anspruch in der Begegnung mit dem reichen jungen Mann zum Ausdruck: „Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ fragte ihn dieser aufrichtig suchende Mensch. „Du kennst die Gebote: »Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; ehre Vater und Mutter.« “ Der junge Mann antwortete: „Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf.“ – Da sah Jesus ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: „Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!“ (Mk 10, 17ff) Der junge Mann entsetzte sich über diese Antwort. Jesu Worte bewirkten, dass er unmutig wurde und traurig davon ging. Wer kann von sich schon sagen, dass er die Gebote von Kindheit an gehalten hat? Hatte Jesus diesen suchenden Menschen überfordert? Er kam doch aus gutem Haus. Er strebte nach Vollkommenheit.
Gerade weil Jesus die Aufrichtigkeit dieses Mannes erkannte und wertschätzte, traute er ihm zu, sich noch tiefer in das unausschöpfliche Geheimnis des Lebens mit Gott hinein zu wagen. Jesus lockte diesen Mann, das Leben eines Reich-Gottesmenschen zu ergreifen. Was kennzeichnet einen Reich-Gottesmenschen? – Dass er den Anspruch aufnimmt und dem Anruf nachkommt: „Folge mir nach!“ Jesus achtete den Gehorsam gegenüber den Geboten nicht gering. Er hob die Weisungen des alttestamentlichen Bundes nicht auf. Aber er trat den Menschen, die sich an ihn wandten, mit dem Anspruch entgegen, die Erfüllung des Willens Gottes in seiner Person zu suchen und zu finden: „Ich bin der Weg…, niemand kommt zum Vater außer durch mich!“ (Joh 14,6) Jesus ist das Bild des Vaters.
Darüber erschraken die Menschen. Daran scheiden sich die Geister bis heute.
Jesus war eigentlich kein ‘Religionsstifter‘. Er fügt den menschlichen Versuchen, Gott näher zu kommen, nichts Neues hinzu. Er verstärkt nicht menschliches Bemühen, sondern verkündigt und verkörpert zuerst die Gnade, die von Gott kommt:

„Aus Gottes Herzen führt er einen Lebensstrom in die dürstende Welt. Von Oben her tut er ein neues Dasein auf, das aus der Schöpfung selbst nicht möglich und nach Ordnungen gebaut ist, die von Unten her als Verwirrung und Umsturz erscheinen“. Um daran teilzuhaben, muss der Mensch hören, sich öffnen und umkehren. „Er muss die Verklammerung ins natürliche Dasein loslassen und dem Kommenden entgegen gehen“

(R.Guardini).

Frei werden von Gott her

Der natürliche Anspruch begnügt sich mit dieser Weltordnung und hält sie für das Einzige und Eigentliche. Denen, die es in dieser Zeit gut haben, die Mächtigen, die Reichen, die Satten, die sich hier einrichten konnten und wohlgeordnete Verhältnisse vorfanden oder zu schaffen vermochten, denen fällt es schwer, mehr zu sehen als diese Welt. Jesus muss sie mit einem vierfachen „Wehe“ aufschrecken: „Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt. – Weh euch, die ihr jetzt satt seid! Denn ihr werdet hungern. – Weh euch, die ihr jetzt lacht! Denn ihr werdet weinen und klagen. – Weh euch, wenn euch jedermann wohlredet! Denn das gleiche haben ihre Väter den falschen Propheten getan“ (Lk 6,24-26).
Unablässig wirbt Jesus. In den Armen, Trauernden, Friedlosen und Verfolgten sieht er diejenigen, die offen sind für diese Botschaft. Ihre Lebensmöglichkeiten nennt Jesus nicht deshalb selig, weil Armut oder Ungerechtigkeit ein seliger Zustand wäre. Aber er sieht in ihnen Bürger des Himmelreiches, Menschen, die von Gott her frei geworden sind. Ihre Freiheit und ihr Reichtum liegen darin, dass sie sich an seine Person gebunden haben und ihm nachfolgen. So sind sie „dem irdischen Herüber und Hinüber von Stoß und Gegenstoß, von Recht und Wider-Recht“ nicht mehr einfach ausgeliefert; sie steigen „über das Getriebe der innerweltlichen Mächte und Ordnungen“ (R.Guardini) hinaus.
Nachdem die Jünger Jesu miterlebten, dass der junge Mann traurig und mutlos davonging, erschraken auch sie über seine Worte. „Aber Jesus sprach zu ihnen: »Liebe Kinder, wie schwer ist’s, ins Reich Gottes zu kommen! Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.« Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: »Wer kann dann selig werden?« Jesus aber sah sie an und sprach: »Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott« (Mk 10, 24-27). Gott gibt die Sehnsucht und die Kraft, in der wir vollbringen, was uns selbst nicht gelingt. Was der Verstand für unmöglich hält, kann der Glaube wagen. Ihm wird es geschenkt, denn „unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (1Joh 5,4).