Walter Goll

Was würde Jesus tun?

Wie leben wir als Christen, die die Zuversicht und Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes haben, in dieser Welt? Wir wissen um die Herrschaft Christi, die sich so wesentlich von der in der Welt üblichen Herrschaft unterscheidet und doch noch so verborgen ist. Angesichts der Realität beider Herrschaftsarten müssen wir unser Leben meistern. Wie kann das gelingen? Wie kann ein Christ als Politiker glaubwürdig leben, glaubwürdig als Christ und glaubwürdig als Politiker? Wie kommen wir im Berufs- und Wirtschaftsleben sauber durch als Jünger Jesu angesichts üblicher Tricks und Machenschaften, die mehr oder weniger offensichtlich Tendenzen zur Illegalität haben?

Solche Fragen führen immer wieder zu Gewissensnöten und zu Auseinandersetzungen unter Christen über den rechten Weg. Sie spielen erst recht bis in die obersten Hierarchien der Kirche eine Rolle wie z.B. beim Papst im Umgang mit der chinesischen Regierung angesichts der Situation der Katholiken dort, die zum Einen in der von Rom unabhängigen, staatlich legitimierten Kirche leben und andererseits in der Untergrundkirche um ihres Glaubens willen.
What would Jesus do„? (Was würde Jesus tun?) Dieses Motto einer amerikanischen christlichen Jugendbewegung verweist uns darauf, Hilfe und Wegweisung für diese Fragen bei ihm zu suchen.

Jesus in der Auseinandersetzung mit Pharisäern und Schriftgelehrten

In der Auseinandersetzung mit Pharisäern und Schriftgelehrten fällt eine Szene auf, die direkt das Thema Steuern und damit auch das rechte Verhalten zur Obrigkeit anspricht. In den Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas steht diese Episode in einem bestimmten Zusammenhang.(Mt 22,15-22Mk 12,13-17Lk 20,20-26).
Jesus war eingezogen in Jerusalem und ist durch einige Aufsehen erregende Taten und Reden aufgefallen. Deshalb hat sich für die religiösen und auch die weltlichen Führer unausweichlich die Frage nach seiner Vollmacht gestellt. Um ihn, diesen für sie äußerst unbequemen Zeitgenossen, aus dem Weg zu schaffen, hatten sie sich eine raffinierte Strategie ausgedacht. Mit einer echten Fangfrage wollten sie ihn unschädlich machen. Dazu schickten die Pharisäer nicht nur Schüler aus ihrem religiösen Lager, sondern auch noch Anhänger des Herodes, also Parteigänger des weltlichen Machthabers zu Jesus.
Nach ersten schmeichlerischen Worten voller Heuchelei – mit denen sie eigentlich ungewollt fast unübertrefflich die Wahrheit über Jesus aussagten – kam diese Frage an ihn: „Sage uns, was du denkst: Ist es erlaubt, dem Kaiser die Steuer zu bezahlen oder nicht?“
Es war klar, dass Jesus sich mit den üblichen möglichen Antworten nur größte Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten einhandeln würde. Entweder würde er sich, wenn er die Steuerpflicht bejahen würde, als Volksverräter gegenüber seinen jüdischen Landsleuten outen oder er wäre als Rebell und Aufrührer gegenüber dem römischen Statthalter anzusehen, wenn er sie verneinen würde. Eine solche Frage erzeugte eine ungeheure Spannung.

Man muss Gott mehr gehorchen…

Man könnte sie ja auch für heute ausdehnen: Soll oder muss man als Christ den Ansprüchen des Staats und der Gesellschaft gerecht werden oder ist es aufgrund der Herrschaft Jesu Christi nicht immer wieder nötig, zivilen Ungehorsam zu zeigen, mit allen Konsequenzen?
Einerseits wissen wir darum, dass die Obrigkeit letztlich von Gott eingesetzt ist und daher jeder ihr untertan sein sollte, wie uns der Apostel Paulus mahnt (Röm 13,1). Von daher wäre eine Verneinung der Steuerpflicht aus biblischer Argumentation heraus klar abzulehnen.
Schließlich beten wir ja auch nach Gottes Willen für jegliche Obrigkeit und wollen der Stadt Bestes suchen.
Andererseits kennen wir die Antwort der Apostel mit Petrus als ihrem Sprecher, als sie sich vor dem Hohen Rat zu verantworten haben (Apg 5,29): „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen„. Das zeigt die Möglichkeit auf, aus Gewissensgründen, die vom christlichen Glauben herrühren, Erwartungen und auferlegte Pflichten von Obrigkeiten zu ignorieren, sich gegen solche Anweisungen zu stellen.

Die Antwort Jesu

Was zeigt uns nun die Antwort Jesu dazu? Wir wissen um seinen souveränen und überraschenden Umgang mit dieser Fangfrage. Nachdem er sich die Silbermünze mit dem Bild des Kaisers hat zeigen lassen, gab er zur Antwort: „Gebt also dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“ Für ihn war die Frage so, wie sie gestellt wurde, nicht relevant.
Es ging ihm nicht darum, einen religiösen Katechismus aufzustellen, in dem zu den Einzelfragen des Lebens die richtigen Antworten stehen. Er machte eigentlich nicht einmal eine Aussage darüber, ob man Steuern zahlen soll oder nicht oder ob die römische Herrschaft zu Recht bestand oder nicht. Im Grund genommen überließ er solche Fragen zu weltlichen Dingen dem Verstand und Urteil der Zuhörer selbst. Sie mussten dies selbstverantwortlich vor ihrem eigenen Gewissen und vor den Trägern obrigkeitlicher Gewalt entscheiden, mit allen Konsequenzen.
Viel wesentlicher darüber hinaus war ihm jedoch eine andere Klarstellung. Wie legitim und von welcher moralischen Autorität auch immer die existierende Obrigkeit gewesen sein mag, über allem steht unanfechtbar Gott. Mit Ihm haben wir es stets zuerst und zuletzt zu tun.
Ihm gegenüber gilt es, sein Leben zu verantworten, inmitten dieser Welt.
Jesus selbst, wahrer Gott und wahrer Mensch, hat es vorgelebt. Er, der Gottessohn, ist ganz und gar eingegangen in diese Welt, in unser Menschsein. Als wahrer Mensch ist er in die natürlichen Gegebenheiten und auch in die Ordnungen gesellschaftlichen Lebens eingegangen. Er war ganz in der Welt, aber er war nicht von dieser Welt. Er lebte hier ohne Sünde, d.h. aus der ständigen Verbindung mit dem himmlischen Vater, Ihm gegenüber in völligem Vertrauen und Gehorsam. So ist mit ihm der Anbruch des Reiches Gottes geschehen, was ihn automatisch in eine zunehmende Spannung zum üblichen Verhalten, zu den üblichen Maßstäben dieser Welt, auch der religiösen, brachte. Diese Spannung hat er, obwohl er die Möglichkeit dazu gehabt hätte (siehe Mt 26,53), bis zum bitteren Ende ausgehalten und nicht einseitig aufgelöst. Das ist zum Heil der ganzen Welt geschehen, das ist der unüberbietbare Ausdruck der Liebe Gottes zur Welt.

Jesus der Weg

Zur Frage, wie sich irdische Reiche und das ewige Reich Gottes zueinander verhalten, ist das rechte Erkennen des Wesens und so der Person Jesu Christi entscheidend. Nicht umsonst wurde auf dem Konzil von Chalcedon 451 n. Chr. bezüglich des Verhältnisses der menschlichen und göttlichen Naturen Christi festgestellt, dass sie weder getrennt noch vermischt werden dürfen. Für den Christen in dieser Welt, der durch seine Erlösung schon Anteil an einer neuen Welt, am Reich Gottes hat, ist dies fundamental wichtig.
Die Gefahr ist, diese dadurch gegebene Spannung aus vermeintlich guten Gründen aufzuheben. Wenn jedoch die Realitäten dieser Welt übersprungen werden oder man sich aus frommen Gründen davon fernhalten will, gerät man in eine verhängnisvolle Schwärmerei. Bekommt allerdings die Diesseitsorientierung mit ihren Gesetzen ein zu großes Gewicht, und sei es aus religiösen Gründen im Sinne einer falschen Vorwegnahme des Reiches Gottes, dann fällt man auf der anderen Seite vom Pferd, auf der Seite der menschlichen Machbarkeit bezüglich der Vollendung der Wege Gottes. Die Schöpfung einerseits sowie Erlösung und Vollendung andererseits dürfen also weder auseinander fallen noch sich vermischen, sondern sie durchdringen sich. So bewahrheitet sich in allen diesen Fragen die Selbstaussage Jesu: „Ich bin der Weg.“

Spannung der Liebe Gottes

Martin Buber hat es einmal so ausgedrückt: „Es will mir jedoch scheinen, dass es in unserer Weltstunde überhaupt nicht darauf ankommt, feste Lehre zu besitzen, sondern darauf, ewige Wirklichkeit zu erkennen und aus ihrer Kraft gegenwärtiger Wirklichkeit standzuhalten.“
Im Brief an Diognet (Ende des zweiten Jahrhunderts) werden die Christen u.a. so charakterisiert: „Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber nur wie Beisassen; sie beteiligen sich an allem wie Bürger und lassen sich alles gefallen wie Fremde; jede Fremde ist ihnen Vaterland und jedes Vaterland eine Fremde. Sie heiraten wie alle andern und zeugen Kinder, setzen aber die geborenen nicht aus. Sie haben gemeinsamen Tisch, aber kein gemeinsames Lager. Sie sind im Fleische, leben aber nicht nach dem Fleische. Sie weilen auf Erden, aber ihr Wandel ist im Himmel. Sie gehorchen den bestehenden Gesetzen und überbieten in ihrem Lebenswandel die Gesetze. Sie lieben alle und werden von allen verfolgt. Man kennt sie nicht und verurteilt sie doch, man tötet sie und bringt sie dadurch zum Leben, sie sind arm und machen viele reich…“
Weiter heißt es dann über ihre Stellung in der Welt: „Was im Leibe die Seele ist, das sind in der Welt die Christen. Wie die Seele über alle Glieder des Leibes, so sind die Christen über die Städte der Welt verbreitet. Die Seele wohnt zwar im Leibe, stammt aber nicht aus dem Leibe; so wohnen die Christen in der Welt, sind aber nicht von der Welt… Die Seele liebt das ihr feindselige Fleisch und die Glieder; so lieben auch die Christen ihre Hasser, die Seele ist zwar vom Leibe umschlossen, hält aber den Leib zusammen; so werden auch die Christen von der Welt gleichsam in Gewahrsam gehalten, aber gerade sie halten die Welt zusammen. Unsterblich wohnt die Seele im sterblichen Gezelte; so wohnen auch die Christen im Vergänglichen, erwarten aber die Unvergänglichkeit im Himmel… In eine solche Stellung hat Gott sie versetzt, und sie haben nicht das Recht, dieselbe zu verlassen.“