Aus dem beständigen Stehen vor Gott, im Widerspiegeln seines Wesens und im gemeinschaftlichen Beten hat sich das Einheitsgebet herauskristallisiert. Es fasst in Worte, worum es beim Ökumenischen Christusdienst geht. Wie ist das eigentlich entstanden? 

Dieses Gebet hat viele Menschen – Einzelne und Gemeinschaften – durch die letzten hundert Jahre begleitet. Als im Jahr 1908 Brüder vom gemeinsamen Leben ein stilles Haus in der Altstadt von Zürich bezogen, übte der Vorsteher der kleinen Gemeinschaft, Gotthilf Haug, eine Gebetsweise, aus der später dieses heute weitverbreitete Elf-Uhr-Gebet wurde.

Kurz bevor die Kirchenglocke jeden Vormittag um 11 Uhr mit ihrem „Betzeitläuten” an die Kreuzigungsstunde Jesu erinnerte, unterbrachen die Brüder die Arbeit oder ihre Gespräche durch ein plötzliches ehrfürchtiges Schweigen. Sie kamen in Stille zusammen, um gemeinsam der Erlösung der Welt durch den Opfertod Jesu am Kreuz zu gedenken.

Der Vorsteher eröffnete mit Worten von Franz von Assisi:

„Herr Jesus Christus, wir beten dich hier und an allen Orten in der Welt an und danken dir, denn durch dein heiliges Blut hast du uns und die ganze Welt erlöst.“

Diesem Bekenntnis fügte Gotthilf Haug in freier Weise Bitten an, zu denen ihn das aktuelle Zeitgeschehen drängte. Brüder, die so mit ihm beteten, berichteten, wie sie dabei von der Gegenwart des lebendigen Christus ergriffen wurden. Gotthilf Haug erfasste die Anliegen vom Herzen Gottes her, und er vermochte von dieser Herzmitte darauf zu antworten. 

In großer Treue vollzogen so die Brüder täglich ein umfassendes, priesterliches Beten in der weltweiten Verbundenheit mit allen Menschen und Geschöpfen.

Im Lauf der Jahre bildeten sich dabei drei Grundelemente heraus: der Dank für die Erlösung; die Bitte, dass das Opfer Jesu allen zugutekomme; die Bitte um die Einheit.

Aus dem Jahr 1944 ist ein Wortlaut überliefert, der sich im Lauf dieser ersten Generation bewährt hatte:

„O Herr Jesus Christus, wir beten dich an und danken dir, denn durch dein heiliges Blut hast du uns und die ganze Welt erlöst.

O Herr, dein Blut komme über uns und unsere Kinder gnädiglich, über alle Menschen: Christen, Juden, Mohammedaner und Heiden.

O lieber Herr und Heiland, vereinige uns ganz mit dir und miteinander in deiner Blutsbruderschaft für Zeit und Ewigkeit, ganz und gar. Dir zum Lob und Dank und uns zum Heil. Amen.“

Diese Sätze wurden nicht kunstvoll oder mit einem Sinn für dichterische Sprache gebildet. Sie gingen aus dem schlichten, anbetenden Dasein vor Gott hervor. Über lange Zeit hin verdichtete sich der Einblick in die Geheimnisse der Heilsgeschichte Gottes mit seiner Welt zu diesem Gebet.

Wer heute diese Worte zum ersten Mal hört, wird zunächst vielleicht wenig verstehen; die Wendungen klingen schwer und fremd – ähnlich wie beim Vaterunser. Die Tiefe und Weite der Aussage erschließt sich nicht dem Nachdenker, sondern dem Beter. Erst wer die Worte mit dem Herzen erfassen kann, wird gewiss, dass sich hier das Evangelium eröffnet.

Dieses Einheitsgebet sprengt den Rahmen der persönlichen Frömmigkeit. Die am häufigsten vorkommenden Worte sind: allealles und ganz. Der Horizont ist allumfassend, also „katholisch”; er ist aber auch „orthodox”, also rechtgläubig und rechtpreisend; er ist ebenso „evangelisch”, d.h. auf das Evangelium Jesu Christi gegründet; er ist „pietistisch”, weil das Gebet aus tiefstem Herzen kommt; und er ist nicht zuletzt „charismatisch”, weil die Verfasser sich vom Heiligen Geist angeregt und geführt wussten.

Dieses Einheitsgebet ist über Generationen hin eine kostbare Gebetshilfe geworden. Immer wieder neu kann es zum Ausgangspunkt für das Darbringen aktueller Anliegen vor Gott werden. 

Der heute geläufige Wortlaut stammt von Bruder Eugen Belz. In der Aufbruchszeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es von vielen übernommen, die von der Botschaft des Ökumenischen Christusdienstes im Herzen erreicht wurden. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt und ist heute in allen Erdteilen verbreitet. 

Wir empfehlen dieses Gebet allen Christen, die das Anliegen Jesu der innigen Einheit mit dem Vater und miteinander im Herzen tragen.1

Michael Decker, Vereinigung vom gemeinsamen Leben

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