Gott schreibt Geschichte mit seiner ganzen Welt. Die Bibel bezeugt, auf welch vielfältige Weise er die Menschen und die gesamte Schöpfung nach dem Sündenfall wieder zu sich heimholen will. Sowohl Israel, das erste Gottesvolk, als auch die Kirche, das Volk des neuen Bundes, stehen dabei in einem unauflöslichen Zusammenhang. Bodo Fiebig weist anhand des Pfingstfestes und des jüdischen Festes Schawuot darauf hin. Dadurch werden Linien des Heils durch die Zeiten bis in unsere Gegenwart und in eine herrliche Zukunft hinein deutlich.
Darin sind sich Christen verschiedener Konfessionen weitgehend einig: Das Ereignis zu Pfingsten in Jerusalem vor zwei Jahrtausenden war die Geburtsstunde der christlichen Kirche. Wie allerdings diese Geburt vonstattenging und welche „Geburtshelfer“ da am Werk waren, ist uns zumeist weniger bewusst.
Pfingsttag – von Gott schon vorgeplant?
„Und als der Pfingsttag gekommen war …“ So beginnt der neutestamentliche Bericht vom Pfingstereignis (Apg 2,1). Wie soll man das verstehen? Das klingt ja so, als habe es den „Pfingsttag“ schon vorher gegeben, als sei er ein schon vorher festgelegter Termin gewesen.
Genauso war es: Der Tag, der hier der „Pfingsttag“ genannt wird, war kein „unbeschriebenes Blatt“, sondern ein schon „gefüllter“ Termin im Kalender: Es war der Tag des jüdischen Schawuot-Festes (vgl. 5Mose 16,9-12). Fünfzig Tage nach dem Passah-Fest wurde es gefeiert. Und diese Feier des jüdischen Schawuot-Festes war der situative und spirituelle Hintergrund der urchristlichen Pfingsterfahrung.
Der jüdische Festkalender war einer der „Geburtshelfer“ der christlichen Kirche.
Das Schawuot-Fest markiert, wie die meisten Feste Israels, einen jahreszeitlichen und einen spirituellenFixpunkt im Jahr. Jahreszeitlich gesehen ist es das „Fest der ersten Früchte“, und geistlich gesehen ist es das Fest der Thora, der Gabe der Gebote am Sinai.
Der jahreszeitliche Aspekt leuchtet uns sofort ein: Die Urgemeinde in Jerusalem war die „Erstlingsfrucht“ der Verkündigung Jesu. Jesus starb am Tag vor Passah. 50 Tage später wurde die erste Frucht seines Lebens, seines Todes und seiner Auferstehung sichtbar: Eine Jesus-Gemeinschaft und eine Reich-Gottes-Verkündigung, die die Grenzen im Nahbereich Jerusalems und Israels überschritten. Ein winziger Anfang zwar, aber mit der Potenz, eine „Weltkirche“ zu werden.
Der spirituelle Aspekt macht uns Schwierigkeiten: Ein „charismatisches“ Fest (Pfingsten) am Tag der Gebote? Die Ausgießung des Geistes bei der Feier der Gesetze? Sind nicht Gesetz und Charisma widersprüchliche Erscheinungen im Reich Gottes? Wie passt das zusammen?
Folgenreiche Kirchengeschichte
Der Widerspruch liegt nicht in den Ereignissen am Anfang der Kirche, sondern in den Entwicklungen der folgenden zwanzig Jahrhunderte Kirchengeschichte. Da speiste sich das Selbstbewusstsein der christlichen Kirche oft aus dem (scheinbaren) Gegensatz zum Judentum: das Judentum als starre Gesetzesreligion gegenüber dem Christentum als Religion der Liebe (ach, hätte es sich doch als solche erwiesen – auch gegenüber seinen jüdischen Geschwistern); der Zwang der Gebote gegenüber der Freiheit des Evangeliums usw..
Im Ursprung aber passt alles zusammen: Wo könnte sich die Freiheit des Geistes und der Charismen besser und ungefährdeter entfalten – ohne die Gefahr gefühligen Überschwangs und übersteigerter Selbstüberschätzung –, wenn nicht auf dem nüchternen Boden der „Weisungen“ (Gebote) Gottes: „Du sollst ...“ und „Du sollst nicht ...“? Nur dann, wenn eines von beiden – Gesetz oder Charisma – vereinseitigt wird, können sich Fehlentwicklungen verselbstständigen: zügelloses Schwärmertum oder Erstarrung in Gesetzlichkeit. Und beides gab es: sowohl im Judentum als auch in der Christenheit.
Der Prophet Joel sagt schon im Alten Testament eine allgemeine Geistausgießung voraus: „Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen. Auch will ich zur selben Zeit über Knechte und Mägde meinen Geist ausgießen“ (Joel 3,1-3).
Im Pfingstfest der neutestamentlichen Urgemeinde wurde diese Verheißung Wirklichkeit: allgemeines Priestertum durch das Wirken des Geistes in Unmündigen (Söhnen und Töchtern) und Unfreien (Sklaven und Sklavinnen), vorausgesagt im alten Bund für die Verwirklichung im erneuerten und erweiterten Bund, in den „alles Fleisch“ – und das heißt im Besonderen: ganz Israel und die ganze Kirche – berufen ist.
Im Pfingstfest der neutestamentlichen Urgemeinde wurde diese Verheißung Wirklichkeit: allgemeines Priestertum durch das Wirken des Geistes in Unmündigen und Unfreien, vorausgesagt im alten Bund für die Verwirklichung im erneuerten und erweiterten Bund, in den ganz Israel und die ganze Kirche berufen sind.
Wegzeichen der Gegenwart
Wo in dieser Entwicklung stehen wir jetzt? Ein paar Wegzeichen sind erkennbar:
1. So knüpfen zum Beispiel die charismatischen Bewegungen der Gegenwart an die Anfangsbegabung der Christenheit an. Ohne Geistes-Gegenwart wäre Kirche nur eine Organisationsform „christlicher“ Traditionen. Dabei sollten wir beachten: Die Geistausgießung ist nicht zuerst Sprachen-Gabe, sondern Verkündigungs-Charisma: „Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden“, berichtet die Apostelgeschichte über die Reaktion der verblüfften Zuhörer. Es ging – und geht auch heute – darum, von den „großen Taten Gottes“ zu reden.
„Sprachengaben“ können auch missbraucht werden, begabte Redner müssen nicht immer vom Geist Gottes geleitet sein, und „Zungenrede“ und deren Auslegung können auch manipulativ eingesetzt werden. Ihre Echtheit erkennt man daran, dass sie – wie damals – von den „großen Taten Gottes“ reden und das Gemeindeleben zur Entfaltung bringen.
2. Auch die Entstehung jüdischer Jesusgemeinden („messianischer Juden“) in unserer Gegenwart knüpft an die Situation der Urgemeinde an: Zuerst bestand diese nur aus Juden verschiedener Herkunft, dann sehr bald aus Juden und Nichtjuden. Die Entwicklung im 20. und 21. Jahrhundert ermöglicht wieder, was viele Jahrhunderte unmöglich schien: die eine Jesus-Gemeinde aus Juden und Nichtjuden wie am Anfang. Die Jesus-Gemeinde ist von Anfang an – trotz aller späteren schuldhaften Entgleisungen auf Seiten der Christenheit – eine geistgeleitete Gemeinschaft aus Juden und Heiden und kann es jetzt wieder werden. Gott selbst hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass diese Einheit wieder entstehen darf. Wir müssen es nur wollen und zulassen.
3. Über viele Jahrhunderte waren das „Heilige Land“ und die Stadt Jerusalem von Mächten beherrscht, denen die biblische Landverheißung nicht gegolten hatte. Seit der Wiedergründung des Staates Israel 1948 hat sich das geändert. Das könnte den Weg frei machen und den Raum öffnen, dass wieder, wie zur pfingstlichen Anfangszeit des Christentums, „Weisung ausgeht von Zion und das Wort Jahwes von Jerusalem und er richten wird unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker“ (Jes 2,3-4).
Wie damals zur Zeit der ersten jüdisch-christlichen Jesusgemeinden die Weisungen Gottes durch die Apostel ausgingen von Jerusalem und in einer zweitausendjährigen „Mission“ die entferntesten Völker der Erde erreichten, so könnte nun wieder das Wort Jahwes von Jerusalem ausgehen, als Sammlung von Juden und Christen zu einer „Diakonie der Einheit und Ganzheit“ für die vielfach noch gespaltene Jesusjüngerschaft und das noch viel mehr getrennte Gottesvolk Alten und Neuen Testaments und für die hochgerüstete und hoch gefährdete Völkerwelt in unserer Zeit.
Diese von Gott verheißene Weisung aus Zion wird dann münden in den großen Shalom Gottes: „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (Jes 2,4b). Diese messianische Friedenszeit wird letztlich die ganze Schöpfung erfassen (Jes 11,6-9 und vergleichbare Stellen in der Offb).
Pfingsten und Schawuot, Geist-Ausgießung am Tag der Gebote, charismatische Freiheit in Bindung an die Weisungen Gottes: Hoffnung für Israel, Kirche und Welt.