Wir glauben an den Erlöser Jesus Christus. Unsere persönlichen Erfahrungen und daraus resultierende Prägungen sind begrenzt. Unser Glaube kann und muss jedoch wachsen, wenn wir in umfassender Weise dienstbar sein wollen. Ohne dieses Geheimnis in den Griff nehmen zu wollen, werden in diesem Beitrag Horizonterweiterungen angestoßen.
Wie jämmerlich haben wir Jesus auf unser Glaubensmaß zurückgeschnitten, auf unseren Erfahrungshorizont: Ihn, der die Blinden sehend macht, die Tauben hörend, der Stumme zum Reden bringt, Lahme zum Gehen, der Tote erweckt, Brot vermehrt und Wasser zu Wein verwandelt, dem Sturm gebietet und auf dem Wasser geht. Christus kann das nur noch im „übertragenen Sinn“ – wie wir so schön zu sagen pflegen: Er nimmt uns die Taubheit für Gott weg, er bringt uns auf die Beine im Dienst für ihn, er heilt unser Blindsein für den Nächsten und gebietet dem Sturm in unserem Herzen … Das klingt alles sehr fromm und geistlich. Aber so steht es eigentlich nicht in der Bibel. Das alles kann Jesus sicherlich auch. Aber darüber hat er andernorts geredet. Die Berichte über Jesu wunderbares Handeln sind mehr als Bildersprache. Hier haben wir „Gläubigen“ ihn offensichtlich schon lange vor den von manchen Christen als „böse“ bezeichneten Professoren entmythologisiert!
Aber das ist nicht der ganze Christus. Wie dankbar müssen wir sein, dass Gott in den letzten Jahrhunderten ganz besonders deutlich wieder diese fast vergessene Seite Jesu offenbart hat, gegen alle unsere fromme Theologie. Ja, von Jesus geht verwandelnde, heilende, schöpferische Kraft aus: auf Leib, Seele und Geist des Menschen und auf die ganze Schöpfung. Viele Tausende sind mit ihrem Leben dafür ein Zeugnis. Er, dem „alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,18b) gegeben ist, befreit von dämonischen Mächten und „führt die Gefangenen siegend heraus“ (EG 66). Damit rechneten die Heilungsbewegungen der letzten Jahrhunderte – in Schottland, Amerika und den afro-asiatischen Missionsländern. Damit rechnete man schon, als man in der romanischen Kunst sogar dem gekreuzigten Jesus die goldene Krone aufsetzte und einen Königsmantel um seinen zerschundenen Leib legte.
Es klingt sehr fromm, demütig und bescheiden, wenn wir sagen: „Man muss es halt tragen, man muss sich drunter stellen, man muss es annehmen, wie es Gott gibt.“ – „Es gibt eine falsche Gelassenheit, die gar nicht christlich ist“, sagt Bonhoeffer, „über etwas Ungeduld, Sehnsucht, Widerspruch gegen das Unnatürliche und eine ganze Portion Verlangen nach Freiheit und irdischem Glück und Wirkenkönnen brauchen wir uns als Christen nicht zu schämen.1
Krankheit ist ein Feind, ein Angriff auf den Menschen, nicht einfach grundsätzlich ein Segen. Not und Leid der Welt sind das Gegenteil von Gottes letzten Zielen. Hier gibt es keine vorschnelle Resignation und Kapitulation, auf jeden Fall nicht im Namen Jesu. Er sandte seine Jünger, nicht nur um dieses Evangelium zu predigen, sondern auch in seinem Namen zu heilen und zu befreien. Wie gut, dass das heute wieder in manchen Predigten vorkommt und dass es auch gelebt wird.
Aber nun ist auch da noch eine andere Seite an Jesus, die wir heute leicht übersehen. Er heilt alle, die zu ihm gebracht werden. Ja, er geht sogar zu manchen hin, die wohl nie zu ihm gebracht worden wären. Aber Johannes den Täufer holt er nicht aus den Fängen seines Mörders. Er geht in das große Krankenhaus am Teich Bethesda und holt einen einzigen (!) Patienten heraus. Petrus wird aus dem Gefängnis befreit – und Jakobus stirbt kurz zuvor unter dem Schwert. Jesus redet davon, dass seine Jünger Kranke heilen werden, aber er bedankt sich auch schon im Voraus dafür, dass sie Kranke nur besuchen. Was die Jünger auf dem Berg der Verklärung mit Jesus erleben, das möchten wir am liebsten in jeder Stillen Zeit mit ihm haben, mindestens in jedem Lobpreisgottesdienst, und auf jeden Fall auf einer Freizeit, damit es sich gelohnt hat: Dass es einem so richtig heiß wird, dass es einem durch und durch geht, dass es einen schüttelt und umwirft … Aber Jesus hat die Jünger das nur ein einziges Mal erleben lassen in den drei Jahren mit ihnen, und da nicht einmal alle, sondern nur drei von ihnen!
Wenn Jesus so einer gewesen wäre, wie er uns von den Power-Evangelisten und Wohlstandspredigern vor Augen gemalt wird, dann hätte ihn Judas wohl kaum verraten. Der zerbrach am rätselhaften Jesus, der nicht in sein Messiasbild passte. Der Triumphalismus kennt kein Rätsel bei Jesus. Aber es gibt diese Seite bei ihm. „Ich sitze oft da vor dem Herrn und schaue ihn nur fragend an“, schrieb Pater Delp in der Haft, kurz vor seiner Hinrichtung.2
Jesus ist Sieger. Er kann helfen, heilen und bis in die Natur hinein schöpferisch eingreifen. Aber wir sollten nicht vergessen: Das „in hoc signo vinces“ („in diesem Zeichen wirst du siegen“), das Kaiser Konstantin einst hörte und missverstand, war der Anfang blutiger Machtkämpfe im Namen Jesu, der Anfang eines kirchlichen Triumphalismus, der nichts mehr zu tun hatte mit dem wirklichen Jesus und an dessen Folgen wir noch heute leiden. Soll das noch einmal passieren?
Jesus ist kein Automat. Jesus ist nicht einfach verfügbar. Er ist und bleibt souverän. Er allein weiß, was jetzt für mich gut ist. Sein Hauptziel auf dieser von Gott getrennten Erde ist nicht der gesunde Mensch, sondern der versöhnte – mit Gott, mit den Menschen und mit der ganzen Schöpfung. Sein Hauptziel ist nicht unser Glück auf Erden, sondern unser Heil in Zeit und Ewigkeit.
Wer Jesus einseitig in den Würgegriff einer triumphalistischen Theologie nimmt, bringt unsägliches Leid über Menschen, bei denen sich diese Theologie nicht bewahrheitet: Viele werden von ihren Geschwistern links liegen gelassen, weil man der Auseinandersetzung mit ihrem Leid aus dem Weg gehen möchte. Anderen gibt man die Schuld am Ausbleiben der Hilfe und versetzt sie so in einen schier unerträglichen frommen Leistungsdruck, der nichts mit Jesus zu tun hat.
Nicht mein Schicksal, meine Gesundheit, meine Heilung, mein Glück sind Barometer für Gottes Liebe zu mir, sondern zutiefst und unerschütterlich das, was Jesus für mich am Kreuz getan hat: Das ist das Schlüsselloch, durch das wir in Gottes Herz blicken können – klar und eindeutig wie nirgends sonst. Was sagt Jesus, als seine Jünger begeistert von ihrem Evangelisations- und Heilungsfeldzug zurückkehren (Lk 10)? „Ich sah …“, sagt er, „aber freut euch viel mehr, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind.“ Wie dankbar bin ich für dieses Wort im Blick auf meine Schwestern und Brüder, an denen das Unglück nicht vorübergeht – wie vielleicht gerade an mir – und die leiden müssen trotz Glauben und Gebet, Hingabe und Heiligung.
Wir beten zu Jesus, weil ihm alle Macht gegeben ist. Wir rechnen damit, dass er sie aufgrund seiner Liebe für uns einsetzt. Aber wir bleiben demütig, offen für sein Geben und sein Verweigern.
Es gibt ein „Karfreitagschristentum“, das Jesus auf dieser Erde höchstens die Vergebung der Sünden zutraut. Das ist falsch. Aber es gibt auch einen Triumphalismus, der auf der ganzen Linie nur den Triumph Jesu erwartet. Das ist genauso falsch. Halten wir die oft lange Verborgenheit Gottes nicht aus? Bauen wir dann, auf unsere Weise, ein „goldenes Kalb“ wie damals das Volk Israel? Es gibt Anbetung Jesu trotz Leid und Not, unter Tränen, unabhängig von Glück und Erfolg, unabhängig von Wundern und starken Gefühlen. Diese Liebe zu Jesus ist ganz besonders kostbar. Sie liebt ihn um seiner selbst willen.
Im Übrigen, denke ich, schaut er uns jetzt alle voller Liebe an und bittet uns: „Lasst mich los! Ich möchte unter euch der sein, der ich bin, nicht der, den ihr aus mir macht, im Würgegriff eurer jeweiligen Erfahrungen und Theologien. Gebt euer Bild von mir ab, auch wenn dabei ein ganzes Lehrgebäude einstürzt. Lasst mich los! Ein Gethsemane genügt.3
Frieder Schröter, Bruderschaft vom Kreuz
Fussnoten