In geistlichen Übungen (Exerzitien) der ignatianischen Tradition hat sich aus vielen Erfahrungen ein Weg herauskristallisiert, liebesfähig zu werden. Fundamental ist dabei das Geschenk, die Liebe Gottes zu erfahren und wahrzunehmen oder im Glauben ergreifen zu können. Was hilft dazu, Hindernisse für diese Erfahrung, diesen Glauben zu erkennen und zu überwinden? Aus der Erfahrung als geistlicher Begleiter schildert der Autor Wegstationen, die aus der Unfähigkeit zu lieben heraushelfen und es ermöglichen, Schritte der Nachfolge zu wagen und selbst immer mehr zu lieben.
Heutzutage beginnen wir die Exerzitien in der Tradition des Ignatius von Loyola (1491-1556) mit der sogenannten Fundamentphase. Das ist eine längere Zeit, die sich inhaltlich an den Text Nr. 23 aus den Exerzitien1 anschließt, der mit „Prinzip und Fundament“ überschrieben ist. Dort heißt es: „Der Mensch ist geschaffen, um Gott, unseren Herrn, zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und zu dienen und mittels dessen seine Seele zu retten; und die übrigen Dinge auf dem Angesicht der Erde sind für den Menschen geschaffen und damit sie ihm bei der Verfolgung des Ziels helfen, zu dem er geschaffen ist” (EB 23, Übersetzung Knauer).
Das hört sich erst einmal sehr nach Katechismus und erhobenem Zeigefinger an. Du sollst Gott loben und dienen und so deine Seele retten! Und alles auf der Welt will dir dabei helfen. Dazu ist die Schöpfung da. Das ist sicher für uns heute eine Sicht, die zwar positiv ist, aber dringend ergänzungsbedürftig. Die Schöpfung hat auch einen Sinn in sich und braucht uns nicht.
Wenn ich mit diesem Prinzip und Fundament jemandem helfen will, die Liebe Gottes zu erfahren, dann muss ich erst einmal bewusst machen, dass Lob und Dank nicht zuerst Verpflichtung sind (erhobener Zeigefinger), sondern dass Lob und Dank sich von selbst einstellen als Reaktion auf erfahrene Güte. Mit „Güte“ meine ich hier zuerst einmal gute Qualität. Jeder hat schon einmal so gelobt: „Also dieses Buch musst Du unbedingt lesen. Das hat mir unheimlich gefallen.“ „Der Film mit Robert de Niro ist sehr lustig. Mir hat der Bauch wehgetan vor Lachen.“ Wenn wir überzeugende Qualität erleben, loben wir von selbst. Wann habe ich das zuletzt so getan?
Dankbarkeit geht noch darüber hinaus. Da ist dann die Güte persönlich gemeint. Wenn ich ein Geschenk bekomme, bei dem ich merke, der andere oder oft eher die andere hat sich Gedanken gemacht, hat mich verstanden und genau meinen Wunsch getroffen, dann bin ich von Herzen dankbar. Das zeige ich auch. Kinder springen ihren Eltern um den Hals. Bestimmt kann ich mich daran erinnern. Das muss nicht mit dem moralischen Zeigefinger befohlen werden, sondern stellt sich von selbst ein.
So sollen wir diesen Text von Ignatius lesen:
Gott möchte, dass wir seine Liebe und Güte so erfahren, dass sich Lob und Dank von selbst einstellen und dass meine Reaktion die Liebe und der Dienst sind.
Und dann sehe ich auch, dass das „Seele retten“ nicht etwas wie Lohn ist, sondern, wer so Gottes Güte und Liebe erfährt, dessen Seele ist gerettet.
Also ist die grundlegende (fundamentale) geistliche Übung genau das: Wann habe ich zuletzt von selbst etwas oder jemanden gelobt? Wann war ich zuletzt so dankbar, dass mein Herz weit geworden ist und ich gern jemanden umarmt hätte? Diesen durch und durch positiven Erfahrungen gehe ich nach. Denn da habe ich tatsächlich die Liebe und Güte erfahren. Und in dieser Liebe und Güte von Dingen oder Personen dann auch immer Gottes Liebe und Güte.
Ich suche entsprechende Texte in der Bibel zur Meditation (z. B. 1Mo 1: „Und Gott sah, dass es gut war …“) und lasse auch Übungen in der Natur machen, die diese Erfahrung des Schönen, des Gelingens, der Harmonie erleben lassen. Ich soll am Ende dieser Phase sagen können: Ja, ich habe Gottes Liebe und Güte wirklich in meinem Leben erfahren.
Je intensiver ich mich mit dem Guten, dem Schönen, dem Gelingenden befasse, umso sicherer steigt in mir das Aber auf. Ich habe in meinem Leben nicht nur Gutes, Schönes, Liebes erfahren, sondern auch das Gegenteil, nämlich Böses, Hässliches und sogar Hass. Und da stellt sich die Frage bei mir als Begleiter und genauso unweigerlich bei der begleiteten Person: Wie steht es denn damit? Und wo ist denn da die Vaterliebe Gottes? Als Begleiter achte ich darauf, dass diese Frage wirklich auch für das eigene Leben angeschaut wird. Es geht nämlich nicht nur um die hungernden Kinder in Afrika oder die Leiden jetzt in der Ukraine. Das natürlich auch, aber es geht um das Schlimme und Böse in meinem eigenen Leben, um meine persönliche Unerlöstheit. Es ist jedoch oft leichter, sich dem zu nähern über den Weg des Leidens der anderen in der Welt. Darum darf ruhig zuerst nach außen geblickt werden. Ich soll nur nicht dabei stehenbleiben. Meine eigene Dunkelheit, Widerständigkeit, ja, bewusste Verweigerung und Schuld dürfen angeschaut werden. Dazu ermutige ich als Begleiter im Wissen und mit der Erfahrung der erbarmenden Liebe Gottes.
Dieses Thema durchbetet Ignatius in der sogenannten Ersten Woche der Exerzitien. Die Grundübung, die in dieser Phase gemacht werden soll, ist die folgende: Ja, es gibt das Böse, Hässliche, Misslingende nicht nur bei anderen, nein, das gibt es auch in meinem eigenen Leben, und es ist zerstörerisch. Es führt ins Nichts und ins Aus, und auch das habe ich schon erlebt. Ich schaue bewusst und mutig darauf. Nun ist aber die zweite Erfahrung im Blick auf mein Leben, dass erstaunlicherweise dieses Böse bei mir sein Ziel nicht völlig erreicht hat. Trotz des Bösen, das ich getan habe, ist mein Leben noch nicht völlig aus den Fugen geraten, ja, es ist in vielem gut gegangen. Das liegt nicht an mir. Und daraus folgt: Es gibt in meinem Leben Kräfte, die mich bewahrt und beschützt haben. Darüber staune ich (vgl. EB 60). Das nehme ich wirklich ernst und sage nicht einfach, Glück gehabt, nochmal gut gegangen, sondern tatsächlich habe ich da Fügung, Vergebung, Annahme, Bewahrtwerden erlebt. Wenn ich es annehme und glaube, erfahre ich darin, was die grundlegende Erfahrung des Neuen Testaments ist, nämlich dass Gott den Sünder liebt und ihm nachgeht, wie der Hirt dem verlorenen Schaf, die Frau der verlorenen Drachme, der Vater dem verlorenen Sohn (Lk 15). Wir gehen diesen Erfahrungen ganz konkret im eigenen Leben nach und suchen die Versöhnung und den Frieden mit Gott.
Erst wenn ich selbst innerlich nachvollziehen, nacherleben kann, dass Gott der barmherzige, vergebungsbereite Vater ist, dann kann ich glauben, dass Gott wirklich gut ist und dass ich es wagen kann, ihm zu folgen.
Erst wenn diese Begegnung mit dem barmherzigen, vergebenden Vater wirklich gemacht ist, wenn ich Versöhnung, Annahme, Liebe des Vaters erlebt habe, kann ich in den Exerzitien weitergehen zu den Schritten der Nachfolge, der Entscheidung, dem Kreuz und der Auferstehung. Darum gibt es oft ein Ringen und eine Mühe, weil es nicht so leicht ist, Gott seine Liebe wirklich zu glauben und sich (selbst) auf sie (hin) zu verlassen. Aber es ist die verwandelnde Erfahrung des Neuen Testaments. Dazu soll der Begleiter helfen. Da unterstützen dann auch oft Zeugnisse anderer Christen, wenn sie von ihrer Bekehrung und der verwandelnden Erfahrung der erbarmenden Liebe Gottes des Vaters erzählen, von Augustinus bis Luther und von Theresa von Avila bis Charles de Foucauld.
Autor
Jesuiten – Die Gesellschaft Jesu
Pater Thomas Gertler SJ, Dr. theol., ist 1967 in den Jesuitenorden eingetreten. Er war von 2009 bis 2019 Kirchlicher Assistent für die Gemeinschaft Christlichen Lebens (GCL). Von 2019 bis 2022 war er Oberer der Jesuitenkommunität in Göttingen. Daneben gab er Exerzitien und unterstützte das Bistum Hildesheim in der geistlichen Begleitung von pastoralen Teams. Seit 2022 ist er Superior in Frankfurt.
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Jesuiten – Die Gesellschaft Jesu
Die Jesuiten sind eine internationale Ordensgemeinschaft der römisch-katholischen Kirche, die 1540 gegründet wurde und weltweit tätig ist. Symbol des Ordens ist das Monogramm IHS, die ersten drei Buchstaben des Namens Jesus in griechischer Schrift. Es kann auch gelesen werden als Iesum Habemus Socium: „Wir haben Jesus als Gefährten“.
Fussnoten