Etty (Esther) Hillesum wurde am 15. Januar 1914 in Middelburg in Holland geboren. Sie starb am 30. November 1943 in Auschwitz. Sie war Jüdin. In ihrem Elternhaus erhielt sie keine oder nur eine geringe Erziehung im jüdischen Glauben. Dennoch entwickelte sich in Etty Hillesum ein religiöses Bewusstsein, eine Beziehung zu Gott. Diese Beziehung mündete in den Jahren 1941 bis 1943 – aus diesen Jahren sind uns die Tagebuchaufzeichnungen von ihr zugänglich – in eine nahezu ununterbrochene und für uns eigentümlich erscheinende Gotteserfahrung. Gerade in den schweren Jahren der Verfolgung und des Lebens im Konzentrationslager erfährt sie, wie sie durch eine tiefere Wirklichkeit in ihr getragen und genährt wird. Und die sie zugleich mit in alles hineinnimmt.

In letzter Zeit kommt es immer häufiger bei mir vor, dass ich in meinen kleinsten täglichen Verrichtungen und Empfindungen einen Anflug von Ewigkeit verspüre.

Gut, diese neue Gewissheit, dass man unsere totale Vernichtung will, nehme ich hin. Ich weiß es nun. Ich werde den anderen mit meinen Ängsten nicht zur Last fallen, ich werde nicht verbittert sein, wenn die anderen nicht begreifen, worum es bei uns Juden geht. Die eine Gewissheit darf durch die andere weder angetastet noch entkräftet werden. Ich arbeite und lebe weiter mit derselben Überzeugtheit und finde das Leben sinnvoll, trotzdem sinnvoll, auch wenn ich mir das kaum noch in Gesellschaft zu sagen getraue.

Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgung, die zahllosen Grausamkeiten, all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich nehme alles als ein Ganzes hin, und beginne immer mehr zu begreifen, nur für mich selbst, ohne es bislang jemand erklären zu können, wie alles zusammenhängt (S. 124).

Und ich dachte, oder eigentlich dachte ich es gar nicht, es war eher eine Empfindung: In allen Jahrhunderten hat es müde Menschen gegeben, die sich in Kälte und Hitze auf Gottes Erde die Füße wundgelaufen haben, auch das gehört zum Leben. In letzter Zeit kommt es immer häufiger bei mir vor, dass ich in meinen kleinsten täglichen Verrichtungen und Empfindungen einen Anflug von Ewigkeit verspüre. Ich bin nicht die Einzige, die müde oder krank oder traurig oder ängstlich ist, sondern ich teile das Los von Millionen anderer Menschen aus vielen Jahrhunderten. All das ist ein Teil des Lebens, und trotzdem ist das Leben schön und sinnvoll noch in seiner Sinnlosigkeit, wenn man nur allen Dingen einen Platz im Leben einräumt und das ganze Leben als Einheit in sich aufnimmt, sodass es dennoch zu einem geschlossenen Ganzen wird. Und sobald man Teile davon ausschließt und ablehnt, sobald man eigenmächtig und willkürlich dies eine vom Leben annimmt, jenes andere aber nicht, ja, dann wird es in der Tat sinnlos, weil es nun kein Ganzes mehr ist und alles willkürlich wird (S. 128).

Viele Leute werfen mir Gleichgültigkeit und Passivität vor und sagen, dass ich mich zu leicht ergebe. Und sie sagen, jeder, der sich vor ihren Klauen retten könne, müsse es versuchen, er sei dazu verpflichtet. Ich solle etwas für mich selbst tun. Aber das ist eine Rechnung, die nicht aufgeht. Zurzeit ist nämlich jeder damit beschäftigt, etwas für sich zu tun, sich zu retten, und doch müssen viele, sehr viele sogar, gehen. Und das Komische ist: Ich fühle mich gar nicht in ihren Klauen, weder wenn ich bleibe, noch wenn ich abtransportiert werde. Ich finde alles so klischeehaft und primitiv, ich kann diese Argumente überhaupt nicht verstehen, ich fühle mich in niemandes Klauen, ich fühle mich nur in Gottes Armen, um es mal pathetisch zu sagen, und ob ich nun hier an dem mir so lieben und vertrauten Schreibtisch sitze oder ob ich nächsten Monat in einer armseligen Kammer im Judenviertel hause oder vielleicht in einem Arbeitslager unter SS-Bewachung stehe, ich werde mich überall und immer, glaube ich, in Gottes Armen fühlen. Man wird mich möglicherweise körperlich zugrunde richten, aber mir weiter nichts anhaben können. Vielleicht werde ich der Verzweiflung anheimfallen und Entbehrungen erdulden müssen, die ich mir in meinen düstersten Phantasien nicht vorstellen kann. Und doch ist das alles belanglos, gemessen an dem Gefühl endloser Weite und Gottesvertrauen und innerer Erlebnisfähigkeit. Es kann sein, dass ich alles unterschätze.

ich werde mich überall und immer, glaube ich, in Gottes Armen fühlen

Esther Hillesum

Ich lebe täglich in einer harten Ungewissheit, die für meine Person jeden Augenblick zur Gewissheit werden kann, wie sie schon für viele, allzu viele Menschen zur Gewissheit geworden ist. Ich lege mir bis in die kleinsten Einzelheiten Rechenschaft über alles ab, und ich glaube, dass ich bei meinen inneren „Auseinandersetzungen“ mit beiden Füßen auf dem härtesten Boden der härtesten Realität bleibe. Meine Ergebung ist keine Resignation oder Willenlosigkeit. Es ist immer noch Raum darin für die elementare moralische Entrüstung über ein Regime, das so mit den Menschen umgeht. Aber die Ereignisse, die uns überrollen, sind zu gewaltig und dämonisch, als dass man darauf mit persönlichem Groll und Erbitterung reagieren könnte. Das käme mir kindisch vor und wäre diesem „schicksalhaften“ Geschehen nicht angemessen.

Die Leute regen sich oft darüber auf, wenn ich sage: Es ist doch nicht entscheidend, ob ich gehe oder ein anderer, entscheidend ist doch nur die Tatsache, dass so viel Tausende gehen müssen. Und es ist keineswegs so, dass ich mit einem gelassenen Lächeln geradezu in meinen Untergang hineinrenne, nein, so ist es auch nicht. Es ist ein Gefühl des Unabwendbaren, ein Sich-Abfinden mit dem Unabwendbaren in dem Wissen, dass uns in letzter Instanz nichts genommen werden kann. Ich will nicht aus einer Art Masochismus um jeden Preis mitgehen und aus meiner Daseinsform herausgerissen werden, aber ich weiß, dass ich mich keineswegs wohl fühlen würde, wenn mir erspart bliebe, was so viele erdulden müssen. Man sagt zu mir: Jemand wie du ist verpflichtet, sich in Sicherheit zu bringen, du hast im Leben später noch viel zu tun, du hast noch so viel zu geben. Was immer ich zu geben habe, das kann ich überall geben, wo ich bin, hier im Freundeskreis oder irgendwo anders in einem Konzentrationslager. Es wäre eine sonderbare Selbstüberschätzung, mich für zu wertvoll zu halten, um in einem gemeinsamen „Massenschicksal“ mit den anderen unterzugehen (S. 147-148).

Sonntagmorgengebet. Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: Ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen. Es gibt Leute, es gibt sie tatsächlich, die im letzten Augenblick ihre Staubsauger und ihr silbernes Besteck in Sicherheit bringen, statt dich zu bewahren, mein Gott. Und es gibt Menschen, die nur ihren Körper retten wollen, der ja doch nichts anderes mehr ist als eine Behausung für tausend Ängste und Verbitterung. Und sie sagen: Mich sollen sie nicht in ihre Klauen bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Klauen ist, wenn man in deinen Armen ist. Ich werde allmählich wieder etwas ruhiger, mein Gott, durch dieses Gespräch mit dir. Ich werde in der nächsten Zukunft noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen.

Du wirst wohl auch karge Zeiten in mir erleben, mein Gott, in denen mein Glaube dich nicht so kräftig nährt, aber glaube mir, ich werde weiter für dich wirken und dir treu bleiben und dich nicht aus meinem Inneren verjagen.

Esther Hillesum – (S. 149-150)

17. September, Donnerstagmorgen, 8 Uhr. Das Lebensgefühl ist so stark und ruhig, und meine Dankbarkeit ist so groß, dass ich gar nicht versuchen will, es mit einem einzigen Wort auszudrücken. In mir ist ein einziges und vollkommenes Glück, mein Gott. Es lässt sich doch wieder am besten mit seinen Worten ausdrücken: „In sich ruhen.“ Und hiermit ist mein Lebensgefühl wohl am vollkommensten ausgedrückt: Ich ruhe in mir selbst. Und jenes Selbst, das Allertiefste und Allerreichste in mir, in dem ich ruhe, nenne ich „Gott“. In Tides Tagebuch habe ich öfter gelesen: „Nimm ihn sanft in deine Arme, Vater.“ Und so fühle ich mich nun, immer und unablässig: als ob ich in deinen Armen läge, mein Gott, so beschützt und geborgen und so von Ewigkeitsgefühl durchtränkt. Es ist, als wäre jeder meiner Atemzüge durchtränkt von Ewigkeitsgefühl, und die kleinsten Verrichtungen und geringsten Aussagen haben einen großen Hintergrund und einen tieferen Sinn. (S. 175-176)


Autorin

Esther Hillesum
Esther Hillesum

(1914 – 1943)

Mit freundlicher Genehmigung – Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Breisgau

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