Dorothea Vosgerau
Ich halte es für ein Risiko, die Aufmerksamkeit unsrer Leser auf den Leib Christi richten zu wollen. Das ist doch kein brennendes Thema! Aktuelle Veröffentlichungen und Vorträge gehen von Themen aus, die dem Menschen in seiner Befindlichkeit und gesellschaftlichen Lage auf den Nägeln brennen.
Warum riskieren wir einen Blickwechsel?
Wir halten mit Christen aller Zeitalter eine Bekehrung zum einen, ganzen Leib Christi für wichtig. Denn wer mit Jesus bittet, „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden…”, der ist in das Heilshandeln Gottes mit dieser Welt eingebunden, das das Reich Gottes zum Ziel hat. Darum ist es für uns selber und die ganze Welt und Menschheit wichtig, dass wir uns immer wieder zum einen, ganzen Leib Christi und zu der Einheit, die Gott schon immer gegeben hat, bekehren.
Das Bild vom Leib Christi im Neuen Testament
Das Bild vom Leib Christi entwickelt sich unter den Aposteln und ihrem Zeugnis in den Evangelien und Briefen zu einem wunderbar umfassenden und lebendigen Gleichnis, das das Leben aller Christen und Zeiten umfasst.
Zunächst finden wir im 1.Petrusbrief (2,24) eine Aussage über die heilsgeschichtliche Bedeutung des Leibes Jesu, wenn es heißt: … der unsere Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. Nur durch seinen menschlichen Leib konnte die Sünde aller Menschen absterben und die tödliche Wunde der Menschheit geheilt werden. Diese Realität bezeugt auchder Apostel Paulusim Bericht von der Einsetzung des heiligen Abendmahls (1Kor. 11,23f). Jesu Jünger sind damit eingeladen, sich mit Jesus leibhaftig verbinden zu lassen.
Konkret zeigt uns der Evangelist Johannes (Kap.15) im Gleichnis vom Weinstock und den Reben, wie notwendig Jünger eine beständige und organische Lebensverbindung mit ihrem Herrn brauchen, so wie er sie selber mit dem Vater gelebt hat. Denn ohne mich könnt ihr nichts tun, warnt er alle seine Jünger, damals und heute.
Dass ein Mensch ohne Jesus nichts tun kann, hatte Paulus durch die Erscheinung Jesu auf seinem Weg nach Damaskus – von wo er die „Anhänger des neuen Weges” gefesselt nach Jerusalem bringen wollte – eindrücklich erfahren. Er hatte aus frommer Überzeugung für Gott kämpfen wollen. Aber als ihm Jesus, der gekreuzigte und auferstandene Christus, erschien, erkannte er, dass alle menschliche Frömmigkeit durch die Taufe gekreuzigt und begraben werden muss, um durch Jesu Auferstehung zu einem Überwinderleben befreit und damit für das Reich Gottes fruchtbar zu werden. Vielleicht ist ihm deshalb das Bild vom Leib Christi so lebendig, dass er es häufig verwendet und auf die nach Pfingsten entstandenen Gemeinden bezieht.
Im Brief an die Gemeinde in Ephesus (5,30) schreibt er: Denn wir sind Glieder seines Leibes; und an die Gemeinde in Röm (12,5): So sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des anderen Glied. Nachdrücklicher kann man doch eine göttlich-organische Verbindung nicht verdeutlichen.
Berufen zum Glied am Leib Christi
Wie ein Mensch durch seine Taufe eingegliedert wird in den Leib Christi, erklärt Paulus den Ephesern in sehr dichten Aussagen (4,1-6): So ermahne ich euch nun, ich, der Gefangene in dem Herrn, dass ihr der Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid, in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib undein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung,ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.
Alle Glieder Christi sind berufene Glieder. Niemand beruft sich selbst. Ein Berufener ist zunächst passiv. Erst die Berufung durch Gott bringt ihn auf den Weg. Und dieser Weg ist und bleibt ein Gehorsams- und Reifeweg des einzelnen Jüngers.
Berufung kann würdig oder unwürdig gelebt werden. Würdig gelebt wird sie nur in Demut, Sanftmut und Geduld. Würdig gelebt wird sie nur, wenn sie andere Menschen mit ihrer Berufung in Liebe erträgt und die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens wahrt. Denn einer ist der Herr aller Berufungen. Zu einem Glauben sind sie alle durch eine Taufe berufen. Und durch einen Geist sind sie alle zu einem Leib geworden. Was für inhaltsschwere und jeden Christen immer wieder herausfordernde Aussagen!
Da stellt sich doch unweigerlich die Frage: Haben wir in unsrer Zeit die Hoffnung einer solchen Berufung verloren? Wer ringt noch darum, diese Berufung zu erkennen und zu leben? Sind wir nicht längst als Individuen und als Gemeinschaften und Kirchen zu Einzelkämpfern geworden, zu solchen, die dazu neigen, ihre Identität zum Maßstab zu machen? Und leben wir damit nicht unsrer Berufung als Glieder an dem einen Leib Christi unwürdig?
Berufene bekehren sich zum Leib Christi
Paulus weist uns auf die Spur Gottes, wenn er schreibt: Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hängt durch alle Gelenke, wodurch jedes Glied das andere unterstützt nach dem Maß seiner Kraft und macht, dass der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Liebe (Eph 4,15f).
Es geht Paulus um einen Gemeindeaufbau im Sinne des Leibes Christi. Das göttliche Ziel jeder Gemeinde ist Wachstum der Glieder zu Christus als ihrem Haupt. Von diesem Haupt aus wird dann der Leib zusammengefügt und werden die Glieder funktionsfähig. Dadurch wächst der Leib und baut sich selbst auf in der Liebe.
Schon zu Paulus’ Zeiten war diese Sicht des Leibes Christi eine sehr angefochtene Realität. Deshalb kämpft Paulus mit dem Bild vom Leib Christi um die göttliche Funktionsfähigkeit. Er weiß nur zu gut, wie sehr menschliches Leben und Zusammenleben von der Gottesferne durchdrungen ist. Aber er weiß ebenfalls aus Erfahrung: Je mehr die Glieder an Christus, ihrem Haupt, hängen, desto stärker werden sie als Glieder aneinander hängen und sich unterstützen nach dem Maß der Kraft Christi; dadurch wird der Leib wachsen.
Das lässt uns ahnen, wie sehr Gemeindeaufbau eine Sache der lebendigen Herzensverbindung mit Jesus ist und einer geistlichen Herzerweiterung bedarf – nicht nur für den Einzelnen, sondern ebenso für Gemeinschaften und Kirchen.
Für den Apostel selbst ist dieser Vorgang ein großartiges göttliches Geheimnis und Geschenk, das er zum Beginn des Briefes an die Epheser mit einem Lobpreis Gottes für die Erlösung durch Christus staunend bedankt. Darauf folgt ein Gebet um die Erkenntnis der Herrlichkeit Christi, weil seine Heiligen in den Gemeinden berufen sind, diese Herrlichkeit zu empfangen. Er schließt das Gebet mit den Sätzen: Und alles hat er (Gott) unter seine(Christus) Füße getan und hat ihn gesetzt der Gemeinde zum Haupt über alles, welche sein Leib ist, nämlich die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt (Eph 1,22f).
Es überfällt uns hier geradezu eine Dringlichkeit und Klarheit, die nicht von unsern zeitlichen Nöten herkommt, sondern vom Heilshandeln Gottes, in das der Leib Christi durch Jesus Christus eingebunden ist. Welche Gnade, dass Gott auch heute noch Menschen beruft, denen diese Dringlichkeit und Klarheit aufleuchtet und die bereit sind, sich berufen zu lassen. Ihnen gilt die Zusage: Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen (Eph 2,10).