Der Aufruf Gottes zum Ökumenischen Christusdienst 1948 und heute –

Aspekte seines Inhalts und Gedanken zu seiner Aktualität

Im August 1948 wurde von Eugen Belz, Otto Siegfried von Bibra, Klaus Heß und Paul Riedinger die Schrift „Oekumenischer Christusdienst“ herausgegeben.1Nach langem Warten und Prüfen gelangten sie zu der Überzeugung, dass ihnen – mitten in der damaligen Nachkriegssituation – die Veröffentlichung dieses Zeugnisses von Gott aufgetragen war. 

Dem waren schon während des Krieges Zusammenkünfte vorausgegangen. In ihnen hatten sie gemeinsam mit einigen weiteren Christen verschiedener konfessioneller Herkunft vor Gott um die Erkenntnis gerungen, was angesichts der sich abzeichnenden Katastrophe für das Volk und die ganze Christenheit jetzt nötig sei. Dieses Ringen geschah vor allem in Verbindung mit intensiven Gebetszeiten. In dem Bewusstsein, selber mit unter der Schuld und den Nöten zu stehen, die im Zusammenhang des Naziregimes geschehen waren, ging diese Botschaft 1948 hinaus.

Zugleich gab es ein Erahnen großer kommender Nöte und Gerichte sowie Versuchungen der Kirche und Christenheit. 

So sollte es ein ernster Bußruf zur Heimkehr in die heilige, vollkommene Liebe Gottes und zum Heimfinden in das allen Christen von Gott geschenkte gemeinsame Leben der einen Kirche Jesu Christi sein. Nur darin sei die umfassende Heilung der Schäden möglich, welcher Konfession, welchem Volk, welchem Stand oder Beruf auch immer jemand angehöre.

1. Der damalige Kairos 

Im mörderischen Krieg und hinter dem Stacheldraht der Kriegsgefangenenlager hatte sich angesichts der unbeschreiblichen Not unter den Menschen so etwas wie eine „Ökumene der Liebe“ ereignet. Die konfessionellen Unterschiede und Herkünfte hatten in diesem „Schmelzofen des Elends“ (Jes 48,10) keine trennende Rolle mehr gespielt. Und so war jener Weckruf Gottes in der Nachkriegszeit eine große und verheißungsvolle Herausforderung für die Christen. Es galt, einander anzunehmen und mit dem Beispiel gelebter Liebe den Menschen wieder ein glaubwürdiges Zeugnis zu geben. Gerade jetzt schien die Stunde gekommen zu sein, „dass das hohepriesterliche Gebet Jesu Christi um die Einheit Seiner Jünger in dieser Welt verwirklicht und offenbar werde gemäß der Herrlichkeit, die Christus Seinen Jüngern gegeben hat.“ Mit dieser sichtbaren Liebeseinheit der Gemeinde Jesu Christi würde neue Gnade aufbrechen nach dem Wort Jesu: „… dass sie alle eins seien: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.“ (Joh 17,21)

Die Kriegsereignisse mit ihren einschneidenden Folgen wurden als eine Stunde heiligen Gottesgerichts angesehen. Darin war den Menschen aber zugleich auch die Barmherzigkeit und Gnade Gottes begegnet. Die vollen Kirchen, die lebendige Gemeinschaft, die in jenen Tagen aufgebrochen war, ließen einen höchst notwendigen – also die Not wendenden – Neuanfang als eine gottgeschenkte Möglichkeit erahnen. In all der Verwirrung und Armut fragte man damals, trotz manchen Verschuldens der Kirchen, stark nach deren Stimme. Es war eine Situation außerordentlich hoher Verantwortung für alle Christen. Als Beispiel sei das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 genannt, in dem etwas davon deutlich wird.

Dem Gottesruf jener und aller ähnlicher Stunden zu folgen, beginne mit dem bußfertigen Gebet füreinander. Es müsse Buße getan werden für das Suchen des jeweils Eigenen statt dessen, „was Christi Jesu ist“ (Phil 2,21). Das beinhalte auch, einander zu suchen und im Geist Jesu danach zu verlangen, mit allen Christen verbunden zu sein. Der Leib Jesu Christi soll doch offenbar werden!

2. Bruderschaft in Christus

Der Apostel Johannes hat das Wesen Gottes und die Botschaft des Heils so zusammen­gefasst: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1Joh 4,16)Somit ist „das unbestechliche Kennzeichen echten Lebens aus Gott, dass Gottesliebe und Bruderliebe nicht voneinander geschieden werden können und dürfen.“ Darüber hinaus verdeutlicht der Apostel in Joh 11,52, dass der Versöhnungstod Jesu Christi nicht nur die Sünde und Schuld der Welt und die Macht des Teufels getilgt hat, sondern dadurch auch alle zerstreuten Kinder Gottes zu einem Ganzen vereinigt werden. So wie Jesus auf Erden das Werk vollendet hat, das ihm vom Vater gegeben worden war, so ist seither die Christenheit in ihrer Sendung dazu berufen, Licht der Welt zu sein (Mt 5,14f). Sie hat den Auftrag, die Erlösung von Sünde und Zertrennung allenMenschen zu bezeugen und so in der Welt die Stadt auf dem Berg zu sein, die von allen gesehen wird.

Der Widersacher Gottes dagegen hat ein großes Interesse daran, diese Sendung zu torpedieren, dieses Zeugnis unglaubwürdig und damit unwirksam zu machen. So streut er unter die Christen die böse Saat des Zweifels an der Erlösung, unterstützt Zwietracht, Lieblosigkeit und Herrschsucht, oft unter geistlichem Anschein getarnt. Jesus weist im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen auf diese Realität hin (Mt 13,24ff)

Angesichts dessen bezeugen die Verfasser des o.g. Aufrufs: „So wie es nur einen Gott und Vater unser aller gibt, der über uns allen und durch uns alle und in uns allen ist, so muss es auch eine Bruderschaft aller Christen in Christus geben, die auch über uns allen und durch uns alle und in uns allen ist. Wenn es diese nicht gäbe, so wären wir Christen samt der Welt verloren. Alle unsere Bemühungen zur Rettung wären dann umsonst!“

Um zu dieser unabdingbaren Notwendigkeit für alle Rettungs­bemühungen zu kommen, müssten „wir anfangen, Gott und unsere Brüder wichtiger zu nehmen und mehr zu lieben als uns selbst.“ Dann würden wir „erkennen, dass wir alle zur einen Bruderschaft in Christus erlöst, versöhnt und getauft sind.“ 

Von unserem natürlichen Wesen her sind wir allerdings nicht dazu in der Lage, das Einssein mit Gott und den Anderen wirklich zutiefst zu leben. Das ist nur in der ganzen Nachfolge Christi, und das bedeutet: auf dem Kreuzesweg, möglich, der ein „Sterbensweg“ für „den alten Menschen“, „ein Weg des Kampfes, der Überwindung, der Aufopferung und des Leidens für den neuen Menschen“ ist.

3. Was tut not?

In jenem Aufruf lesen wir:

Was mich persönlich bei der Botschaft des Ökumenischen Christusdienstes getroffen hat, ist besonders diese letzte Aussage. Die Ursache der Weltkrise – all der Nöte, Ungerechtigkeiten, Probleme und Schrecklichkeiten in der Welt – haben ihre tiefste und eigentliche Ursache in der Schuld der Christenheit, dieses Zeugnis von der Liebe Gottes nicht darzustellen. Wenn das so ist, dann müssen all die vielen gut gemeinten und durchaus nötigen Bemühungen um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt letztlich dennoch wirkungslos verpuffen oder zumindest ihr Ziel nicht ganz erreichen.

Deshalb ist die Tatsache, durch die Taufe mit seinem Namen und seinem Geist beschenkt, in den einen Leib Christi eingegliedert, mit guten Gaben beschenkt zu sein, dies alles aber auf verschiedenerlei Weise missachtet zu haben, Anlass zu tiefer Reue und Umkehr. In den Konfessionen haben wir jeweils „Bruchstücke des ganzen Reichtums Christi und rühmen uns noch dessen und spielen das Stückwerk gegeneinander aus: die einen das Amt gegen das Wort, die anderen das Wort gegen die Sakramente, wieder andere die Gaben gegen die Lehre – und dabei sind es doch alles Teile des Ganzen, mit denen wir einander dienen sollen (Röm 14,19; 15,2; 1Kor 12,25)… Nicht unsere Verschiedenheit ist unsere Schuld und Schmach, sondern unsere Getrenntheit voller Lieblosigkeit, Verachtung und Streit, und dass wir das nicht einmal als Schmerz empfinden, als Trübsal des Leibes Christi, an der wir alle leiden sollten (Kol 1,24)!“

In einer solchen Bußgesinnung zu leben, ist nicht nur Sache von Kirchenführern, Gemeindeleitern und Theologen. Durch das Gebet und das Opfer Jesu ist dies verpflichtend für jeden, „der Ihn nennt und kennt.“ Es gilt, das eine gemeinsame Christusleben zu leben. Kennzeichen eines solchen Lebens der Liebe ist das Bleiben im gemeinsamen Leben mit dem dreieinigen Gott und den Geschwistern, wie es in Apg 2,42 grundlegend beschrieben ist: in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten.

4. Heute noch aktuell?

Das Wissen um die besondere Stunde Gottes damals kurz nach dem Zweiten Weltkrieg könnte zu der Annahme verleiten, heute sei etwas Anderes wichtig. Doch die Erfüllung der Bitte Jesu um das Einssein seiner Jünger hat sich leider noch nicht sichtbar ereignet. Der sichtbaren und unsichtbaren Welt ist dieses Zeugnis noch vorenthalten. Deshalb ist das Leben im Sinne des Ökumenischen Christusdienstes weiterhin absolut notwendig. Die Kirchen sind durch ihre inzwischen fortschreitende Bedeutungslosigkeit für unsere Gesellschaft nicht mehr so gefragt wie damals. Dennoch haben wir als Christen zu den gravierenden Fragen und Problemen des Zusammenlebens der Menschen Entscheidendes zu sagen und vorzuleben. Nach wie vor gilt der Sendungsauftrag Jesu für die Christenheit.                                                                                           

Was beobachten wir heute in unserer Welt?

1. Altes ist vergangen, das Neue noch nicht da

„Welt im Umbruch – das Ende der Gewissheiten“ lautet der Titel einer Reihe von Artikeln, die seit einigen Monaten in der Augsburger bzw. Friedberger Allgemeinen erscheinen. „Weltbeben – Leben im Zeitalter der Überforderung“ heißt ein Bestseller unserer Tage. Darin werden verschiedene gravierende Krisen in Europa und den USA beschrieben und analysiert.

Nicht nur 9/11 mit den terroristischen Angriffen auf die Türme in Manhattan, New York, hat die Welt entscheidend verändert. Auch schon zuvor war durch den Fall der Mauer und den Zerfall der Sowjetunion und des ganzen kommunistischen Machtblocks eine völlig neue Situation entstanden. 

Inzwischen, im Zeichen einer Ballung vielfacher Krisen und Kriege, leben wir in einer Welt der Ungewissheiten. Sie wird verstärkt durch die Verwirrung in den Medien. Dort herrscht ein Kampf um die Deutungshoheit von Ereignissen, weit über parteipolitische Interessen hinaus.

Bevölkerungsexplosionen in afrikanischen und muslimischen Ländern verweisen auf weitere unüberschaubare Probleme.

Veränderungen bringen Unsicherheit mit sich. Das gilt auch innergesellschaftlich. „Eine flatterhafte Gesellschaft, die sich selbst beschleunigende Technik und die mit mathematischer Präzision voranschreitende Überalterung der Gesellschaft ergeben einen Problemcocktail, dessen Wirkung sich der Vorhersage entzieht.“2So beschreibt ein deutscher Journalist unsere Situation. 

Mit der Globalisierung und den rasanten technologischen Entwicklungen sind ganz neue Dimensionen eröffnet. Sie verändern tatsächlich weltweit bis in den Alltag hinein gravierend unser Leben. 

Vor allem die sich rapide entwickelnden Möglichkeiten der digitalen Kommunikation spielen dabei eine bedeutende Rolle, nicht zuletzt in der Flüchtlingskrise. Mit ihr und dem an vielen Orten neu erstarkenden Nationalbewusstsein – im Gegensatz zu übergeordneten politischen und gesellschaftlichen Einheiten – hat sich das alles noch deutlich verstärkt.

Auch das Selbstverständnis des Islam mit seinem Anspruch auf Weltherrschaft spielt dabei eine große Rolle.

Wir sind alle aufeinander angewiesen, weltweit, als die eine von Gott geliebte Menschheit. Wie kann das gelingen? Nicht zu vergessen ist hierbei der Umgang mit der Natur, der guten Schöpfung Gottes. Wir sind ja dabei, unwiederbringlich unsere eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören.

Es scheint eine Zwischenzeit oder Übergangszeit zu sein, in der wir momentan leben. „Das Gestern funktioniert nicht mehr und das Morgen ist noch nicht da. Weltunordnung. Es gibt nicht die eine geniale Lösung. Sozialforscher sprechen deshalb von überkomplexem Terrain, das mit altbewährten Methoden nicht mehr zu bewältigen ist.“ 3

Und in der Christenheit?

2. Erstarrtes bricht ab, Neues und Lebendiges bricht auf

Die Feiern und das Gedenken an die Reformation 4 haben an vielen Stellen ein erfreulich positives Miteinander der beiden kleiner gewordenen Großkirchen mit sich gebracht. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei uns und vornehmlich in der westlichen Christenheit eine fundamentale Krise der Kirchen herrscht.

In einer kurzgefassten und damit auch vereinfachten Weise hat es jemand im Blick auf die evangelische Kirche in Deutschland – ähnlich könnte es wohl auch für die römisch-katholische gesagt werden – so ausgedrückt: „Wir leben hier und in ganz Europa im Kontext eines nie dagewesenen Atheismus. Ein unvergleichlicher und nicht nachlassender Mitgliederschwund sowie viele belastende Veränderungen, Reformen, Fusionen und Umbrüche kennzeichnen die Situation. Dazu kommt eine Erosion in der Mitte der Verkündigung, mit der eine geistliche Kraftlosigkeit einhergeht. Wir stehen vor Abbrüchen historischen Ausmaßes.“ 5

Zugleich sind uns jedoch neue Aufbrüche bekannt, vor allem in Verbindung mit dem Thema Gebet. Das gilt nicht nur bei den Gebetshäusern, sondern ebenso auf verschiedensten Ebenen und in unterschiedlichsten Weisen sowohl in freien Initiativen als auch innerhalb der bestehenden Konfessionen.

Das größte Wachstum der Christenheit geschieht außerhalb der westlichen Welt. Oft ist es verbunden mit furchtbaren Christenverfolgungen. Noch nie wurden so viele Christen verfolgt wie in unserer Zeit. Die Christenheit geht an vielen Stellen erkennbar den Weg des Leidens, den „Weg dem Lamme nach“.

Ein neuer Blick auf das Volk des ersten Bundes, auf die Wurzel des christlichen Glaubens, hat eine segensreiche Abkehr von der verhängnisvollen sog. „Enterbungstheologie“ in Gang gebracht. Das Zweite Vatikanische Konzil war in der römisch-katholischen Kirche ein besonderes Wunderzeichen der Erneuerung und Öffnung hin zu allen anderen Christen. Auch angesichts der Verwerfungen in den turbulenten 68er-Bewegungen ist die Revolution der Liebe durchgebrochen und haben sich neue Formationen lebendigen Christseins gebildet.

Und es gibt weitere erstaunliche Bewegungen aufeinander zu. Außerhalb und innerhalb der Kirchen erleben wir eine bisher so noch nicht dagewesene Vernetzung, die verheißungsvoll ist. Das „Miteinander für Europa“ mit europaweit mehr als 300 geistlichen Gemeinschaften sei als ein Beispiel von vielen genannt.

In der charismatischen Erneuerung und – damals, nach dem Krieg, noch wenig im Bewusstsein – in der messianischen Bewegung unter Juden können wir Bewegungen des Heiligen Geistes erkennen, die auch in die Kirchen hineinwirken. Sie haben den Blick für das Ganze des Leibes Christi in vielfacher Weise gefördert.

So stehen wir auch heute in einer besonderen Zeit, die mit großen Herausforderungen für das Zusammenleben der Menschen verbunden ist. Angesichts dessen wird nach wie vor das Zeugnis des gemeinsamen Lebens in Liebe benötigt. Die Bitte Jesu an den Vater um das Einssein seiner Jünger, das ja ein Einssein in der Liebe ist, eine umfassende Liebes- und Lebensgemeinschaft im dreieinigen Gott, ist so dringlich wie zuvor. Es steht unter der Verheißung, den Menschen den Glauben an die Sendung Jesu als Gottessohn in eindrücklicher Weise zu ermöglichen.

So stehen wir auch heute in einer besonderen Zeit, die mit großen Herausforderungen für das Zusammenleben der Menschen verbunden ist. Angesichts dessen wird nach wie vor das Zeugnis des gemeinsamen Lebens in Liebe benötigt. Die Bitte Jesu an den Vater um das Einssein seiner Jünger, das ja ein Einssein in der Liebe ist, eine umfassende Liebes- und Lebensgemeinschaft im dreieinigen Gott, ist so dringlich wie zuvor. Es steht unter der Verheißung, den Menschen den Glauben an die Sendung Jesu als Gottessohn in eindrücklicher Weise zu ermöglichen.

Erkennen wir auch heute die Stunde und die Not Gottes, seine werbende Liebe, die uns ganz hineinnehmen will in die gemeinsame Sendung zum Heil der ganzen Welt – bis der Herr in Herrlichkeit wiederkommen wird?


Autor

Walter Goll
Walter Goll, Ottmaring

Vereinigung vom gemeinsamen Leben

  • Vereinigung vom gemeinsamen Leben im Ökumenischen Christusdienst

    Die Vereinigung vom gemeinsamen Leben im Ökumenischen Christusdienst ….

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