Walter Goll, Ottmaring

Ein Blick auf die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise

Dimensionen der Krise

Die Krise, die wir nun seit mehr als einem Jahr in mehreren Wellen erleben, ist nicht nur eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie ist eine Erschütterung, die gesellschaftliche und geistliche Grundfragen aufwirft.

Eine Gruppe wirtschaftlich kompetenter Zukunftsforscher weist in einer Pressemitteilung vom Mai dieses Jahres nach, dass die Welt endgültig ihren die letzten 60 Jahre gültigen Bezugsrahmen verlässt. Alle Orientierungshilfsmittel, die bisher genutzt wurden, um Entscheidungen zu treffen über Investitionen, Rentabilität, Unternehmensansiedlungen usw. haben ihre Aussagekraft verloren.

Angesichts sehr verschiedenartiger Formen des Kapitalismus in der Welt kann man die Frage stellen, wie viel Gier die Marktwirtschaft braucht, wie viel Verstaatlichung, wie viel Sozialstaat, wie viel Demokratie. Es ist von daher gar nicht so einfach, über den Kapitalismus an sich zu reden. Letztlich kann man eben auch alle sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsentwürfe als Spielarten des Kapitalismus betrachten. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems Ende der Achtziger Jahre z.B. haben wir den Zusammenbruch des Staatskapitalismus erlebt. In Deutschland gilt vor diesem ganzen Hintergrund die soziale Marktwirtschaft als die richtige Antwort auch für die weltweite Dimension des Geschehens. Sie kommt letztlich von der christlichen Soziallehre her.

Das Neue und so noch nicht Dagewesene in dieser Krise ist die weltweite Dimension, die sich zusätzlich über alle Wirtschaftssektoren bis hin zur politischen Verantwortung in den Staaten und deren weltweites Miteinander erstreckt. Das macht die Krise zu einer, wie sie in zwei- oder dreihundert Jahren nur einmal eintritt. Von daher findet sich die Welt nach der Meinung von Fachleuten jetzt ohne Karte und Kompass in unbekanntem Gelände wieder. Es weiß also niemand mehr Bescheid, wie es weitergehen könnte. Was ist eigentlich alles erschüttert worden? Welche Themen stehen auf der Tagesordnung?

Die Krise mit ihren unabsehbaren Folgen hat in vielerlei Hinsicht Vertrauen erschüttert, ohne das ein gutes Zusammenspiel wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kräfte nicht möglich ist. Sie zeigt, auf welch tönernen Füßen die Ideen eines völlig autonomen Marktes ohne moralische Begrenzung oder sittliche Maßstäbe stehen. Es sind dieselben tönernen Füße, auf denen die Idee eines allmächtigen Staates mitsamt seiner freiheitszerstörenden Ideologie und der institutionalisierten Abwendung von Gott stand.

Die Ideen des Sozialismus und Kommunismus haben ihren großen Reiz und in ihnen stecken Kernpunkte der Wahrheit und Gerechtigkeit. Das einzige Problem dabei sind die Menschen, die in ihrer Sündhaftigkeit nicht in der Lage sind, diese Ideale zu leben.

Die Ideen des Liberalismus, die schöpferische und unternehmerische Kräfte des Menschen ermutigen, bringen viel Gutes hervor. Das einzige Problem dabei sind die Menschen, die in ihrer Sündhaftigkeit nicht in der Lage sind, dabei das Gemeinwohl so mit zu berücksichtigen, dass auch Schwachen die Lebensmöglichkeiten eröffnet werden, die sich ihnen in einer puren Leistungsgesellschaft verschließen.

Auch die Politiker und besonders die Regulierungsbehörden für den Finanzmarkt haben versagt, waren und sind hilflos und haben Vertrauen verloren. Dieses Versagen trifft zusammen mit der sehr stark geschwundenen Autorität des einzelnen Staates. Die Obrigkeit ist nach der Aussage des Apostels Paulus dazu da, dem Guten Anerkennung zu geben und dem Bösen zu wehren (siehe Rö 13,1ff). Sie ist von Gott eingesetzt, um der von der Sündhaftigkeit des Menschen herrührenden Unordnung zu wehren. Die staatliche Gewalt ist auf diese Weise eine Dienerin Gottes, die ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen ermöglichen soll. Dass diese Dienstfunktion wiederum missbraucht werden kann, wissen wir aus leidvollen Erfahrungen gerade auch der deutschen Geschichte.

In den Zeiten der Globalisierung kommt noch etwas hinzu. Der Einfluss der einzelnen Nationalstaaten hat deutlich abgenommen. Diese den Menschen dienende Funktion angesichts weltweit vernetzter Finanz- und Wirtschaftsbelange kann daher nicht mehr so ausgeübt werden, wie es nötig wäre. Deshalb gibt es ja die verschiedenartigen internationalen Zusammenschlüsse, die dieser Entwicklung gerecht zu werden versuchen. Aber die eine obrigkeitliche Autorität für den gesamten Globus, die im Dienste Gottes für Frieden sorgen kann, gibt es noch nicht. Der Gedanke an die Notwendigkeit einer solchen Autorität taucht auch in der bemerkenswerten Enzyklika des Papstes Benedikt XVI. mit dem Titel „Caritas in veritate“ ([Nächsten]liebe in der Wahrheit) auf. Wenn es dazu kommen sollte, wird die Frage zu stellen sein, in welchem Geist sie ihre Autorität ausüben wird. Wird es im Geist der Liebe und Wahrhaftigkeit sein, dienstbar gegenüber Gott und seinen Menschen?

Erschütterungen: Was bewirken sie?

Erschütterungen können sehr schmerzhaft sein und werden oft auch als Katastrophen erlebt und bewertet. Eine allgemeine menschliche Erkenntnis weiß jedoch, dass sie zugleich auch Chancen sind. So gibt es wiederum Zukunftsforscher, die in einer Studie genau das herauszuarbeiten versuchen. Sie schreiben: „Die Krise ist für uns kein Menetekel, sondern ein sinnvoller Wandlungs-Reiz. Krisen weisen immer darauf hin, dass in der realen Ökonomie ein Sprung in eine höhere Komplexitätsebene stattfindet.“ Diese Übergangsprozesse, die außer mit Marktstrukturen und Technologien auch mit Werten und gesellschaftlichen Prozessen zu tun haben, versuchen sie mit einem Grundmuster des Wandels zu beschreiben. Die Frage wird sein, ob diese Sicht wirklich Zukunft hat, ob damit Bleibendes erkannt wird oder nur ein weiterer Versuch unternommen wird, der zum Scheitern verurteilt ist. Werden die Menschen in der Lage sein, die darin beschriebenen Ideale zu leben?

Auf dem Weg der Offenbarung des Reiches Gottes

Zwei biblische Stellen möchte ich erwähnen, die ein deutliches Licht auf derlei Vorgänge in dieser Welt werfen. Sie machen offenbar, wie im Welthorizont und in den geschichtlichen Prozessen Gott selber als der Handelnde sein Reich in seinem Wachstum bis hin zur Vollendung voranbringt.

Zum Einen ist es der Traum des babylonischen Königs Nebukadnezar, den Daniel durch die Offenbarung Gottes hat deuten können (Dan 2,26-45). Demnach geschieht die Erschütterung und damit die Zerstörung des imposanten Standbildes durch einen kleinen Stein, der gegen dessen Füße schlug und sie zermalmte. Das Standbild stellt verschiedene Weltreiche der Geschichte in ihrer unterschiedlichen Charakteristik dar. Ohne Zutun von Menschenhand bewirkt dieser unscheinbare Stein diese unvorstellbar gewaltige Erschütterung. Eigentlich ist die Vorstellung grotesk, dass ein kleines Steinchen etwas derartig Gewaltiges bewirken soll! So ungeheuer wirksam ist es u.a., weil die Füße aus einer Mischung von Eisen und Ton, also eigentlich tönern sind. Anschließend ist von diesem ursprünglich so überragend eindrucksvollen Gebilde nichts mehr erkennbar. Keine Spur mehr ist davon vorhanden, wie Staub und Spreu ist es vom Wind verweht. Und der kleine Stein wird zu einem großen Berg und erfüllt die ganze Erde. Auf diese Weise wird der Gott des Himmels sein Reich errichten. Dieses Reich wird in Ewigkeit nicht untergehen, es wird unter allen künftigen Umständen bestehen bleiben.

Dieser Traum erinnert an die Himmelreichs-Gleichnisse im Matthäus-Evangelium. Unaufhaltsam, sehr klein und unscheinbar beginnend, wächst es durch die Zeiten wie von selbst, bis es endlich für alle unübersehbar und allen dienstbar sein wird. So wächst die Liebe und Wahrheit Gottes, angefangen mit dem Erstling vor aller Kreatur, Christus, mitten unter uns zu der Wirklichkeit heran, die letztlich jeden und alles nur noch die Haltung der Ehrfurcht und Anbetung vor Gott einnehmen lassen wird.

Die andere biblische Stelle ist im Hebräerbrief zu finden. Es geht dabei um die rechte Haltung Jesus gegenüber, mit Aufmerksamkeit und Ehrfurcht. Die Erscheinung Gottes am Berg Horeb war für das Volk Israel furchterregend und erschütternd. Nur Mose konnte stellvertretend für das Volk durch seine Gnade standhalten. Durch den Opfertod Jesu ist es ganz neu möglich geworden, zu dem lebendigen Gott hinzu zu treten. Erst recht hat dieses Hinzutreten in besonders würdiger und heiliger Weise zu geschehen (Hebr 12,18ff). Das aktuelle Reden Jesu vom Himmel her gilt es nun wahrzunehmen. Keinesfalls sollten wir uns von ihm abwenden.

Die Gottesstimme, die damals die Erde erschütterte, wird nun aktuell zu einer verheißungsvollen Stimme. Sie wirkt in ihrer Macht das Bleibende, das nicht mehr erschüttert werden kann. Die Verheißung lautet: ‘Noch einmal lasse ich es beben’, aber nicht nur ‘die Erde’ erschüttere ich, sondern auch ‘den Himmel’. Dieses ‘Noch einmal’ weist auf die Umwandlung dessen hin, das, weil es erschaffen ist, erschüttert wird, damit das Unerschütterliche bleibt (Hebr 12,26+27 nach Einheitsübersetzung).

In dem ganzen Heilsgeschehen Gottes durch die Zeiten bis hin zur Vollendung der Erlösung, das zugleich ein Geschehen des Zurechtbringens, des Gerichts ist, wirkt Gott dieses unerschütterliche Reich seiner Liebe und Wahrheit. Er will es uns schenken in seinem Sohn. Was wir auch mit unseren klugen und gut gemeinten Ideen gestalten werden, das wird dieser Prüfung, diesem göttlichen Rüttel-Test aus Liebe und um der göttlichen Wahrheit willen unterzogen werden. Das gilt Großem und Kleinem gleichermaßen. Aber dann wird das darin göttlich Geschenkte und Gewirkte auch tatsächlich Bestand haben und bleiben zu seiner Ehre. Darum wollen wir dankbar sein, weil wir ein unerschütterliches Reich empfangen, und wollen Gott so dienen, wie es ihm gefällt, in ehrfürchtiger Scheu (Hebr 12,28).

Was wird bleiben?

Was wird also bleiben, durch alle geschichtlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklungen und Erfahrungen hindurch? Der Apostel Paulus rühmt einen Weg, der alles übersteigt und der auch in den Finanz- und Wirtschaftsfragen seine Bedeutung hat. Auch in der erwähnten Enzyklika ist das Werben um diesen Weg zu spüren. Es ist der Weg der Liebe, der Gottesliebe, der im Sohn Gottes so anschaulich geworden ist und der Ausdruck der göttlichen Liebesgemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ist. Bleibenden Bestand haben jetzt (nur) Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei: Die Liebe aber ist die größte unter ihnen (1Kor 13,13 nach Wilckens).

Wir sind Beschenkte. Das Geschenk des neuen, unvergänglichen, also bleibenden göttlichen Lebens haben wir in der Geburt von oben in der Taufe empfangen, verbunden mit dem Glauben. Durch das Leben in der Gemeinschaft mit dem Dreieinigen Gott und so mit den Menschen und Umständen um uns her will sich dieses Leben in allen Facetten entfalten durch den Glaubensgehorsam. So wächst in dieser Welt, zunächst und immer wieder mit ganz kleinen und unscheinbaren Anfängen, dieser Organismus des Lebens Gottes heran. Er ist, soweit er die von Gott geschenkte Reinigung an sich geschehen lässt, durchtränkt vom Wesen der göttlichen Liebe. So wächst er heran zu dem Zeugnis, das letztlich allein durch seine Existenz den Menschen ermöglichen wird, Gott zu erkennen. Das Sein in Gott, wie der Vater in Jesus ist und Jesus im Vater, dieses Einssein, diese Existenz der Gottesliebe im Leben der Gläubigen hat die Verheißung, der Welt das ganze Vertrauen in die Sendung Jesu zu ermöglichen (Joh 17,21). Wo dieses bleibende Göttliche offenbar wird, da kann sich um so mehr das Leben im persönlichen und gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Sinn mit seinen Äußerungen unterschiedlichster Art entwickeln und entfalten.

Zeichenhaft und klein, aber im Verborgenen bereits immer größer werdend, wächst dieses Reich heran, auch im wirtschaftlichen Bereich. Dies im Einzelnen zu buchstabieren würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. In den konkreten Lebensanweisungen für Gläubige, vor allem in den Briefen des NT, finden sich viele hilfreiche Aussagen dazu. Besonders in 1Tim 6,6-8 setzt der Apostel Paulus seinem geistlichen Sohn Timotheus mit einigen grundsätzlichen Angaben auseinander, was wirklich Gewinn bringt. Die Haltung der Genügsamkeit aus dem Gottvertrauen heraus schützt vor den Versuchungen des Reichtums. Es wird immer wieder darauf ankommen, der Wurzel allen Übels, der Habsucht keinen Boden zu geben. Wenn wiederum Reichtum gegeben ist, dann ist er als Gabe Gottes anzuschauen, sofern er nicht mit unlauteren Mitteln zustande gekommen ist. „Haben, als habe man nicht“ ist dann das Motto, also die Unabhängigkeit von irdischem Gut durch das ganze Vertrauen in Gottes Fürsorge. Im Sinne einer guten Haushalterschaft ist dann zu fragen, wie diese Gaben dienstbar werden können, zuallererst für die Gläubigen und darüber hinaus im lebensfördernden Sinn. Solcherlei Haltungen können jede existierende Wirtschaftsordnung durchdringen und etwas vom Geschmack des Reiches Gottes verbreiten. Beispiele dafür sind etwa die Genossenschaftsidee Raiffeisens, die ursprüngliche Idee des Bausparens, die Initiative „Wirtschaft in Gemeinschaft“ oder der Weg der Mikrofinanzierung als Hilfe zur Selbsthilfe in Entwicklungsländern.

Schließlich, wenn der Herr Jesus Christus mit den Seinen in seiner Wiederkunft offenbar werden wird, wird auch die Wirtschaftsordnung seiner Liebe mit ihm als König auf dieser Erde in vollem Ausmaß verwirklicht werden können. Dann wird alles Andere und zuvor durch menschliche Klugheit Versuchte nicht mehr zu finden sein. In einem Artikel aus dem Jahr 1926 angesichts einer zuvor stattgefundenen Abstimmung über die Frage der Fürstenenteignung setzte sich der Theologe Theodor Böhmerle mit den Fragen verschiedener Wirtschaftsordnungen auseinander. Den Gliedern der Gemeinde hat er darin das Wesen dieser Ordnungen auseinander zu setzen versucht und ihnen vor Augen gehalten, wie sie sich darin vorfinden. Mit einem Zitat daraus soll diese prophetische Stimme noch ein Licht auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse werfen:

„Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind zur Zeit sehr schwer, vielleicht werden sie noch schwerer. Die Wirtschaftsordnungen liegen in gewaltigen Kämpfen miteinander. Unrecht und Lüge herrschen mit Macht in diesen Kämpfen auf allen Seiten. Es werden neue Wirtschaftsordnungen erstrebt auf dem Gebiet des Privateigentums, des Sozialismus und Kommunismus. Wir werden auch noch neue Wirtschaftsordnungen im Ich-Wesen erleben. Jede dieser Weltwirtschaftsordnungen wird im Zeitalter der Sünde ihren Todesfluch ausatmen. Darum halten wir am Leben, welches ist Christus. Er bringt uns durch unter jeder Ordnung. Und in ihm erwarten wir die große Neuordnung. Die wird sich mit keiner der menschlichen Ordnungen decken und doch den Wahrheitsgehalt aller in sich tragen.“

Lese-Empfehlung: Wirtschaft in Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen Gerechtigkeit (von Josef Bordat)