Das Zustandekommen der Einheit der christlichen Welt, den endgültigen Triumph der ökumenischen Kirche, pflegt man sich gewöhnlich in der Form einer Vereinigung der Kirchen vorzustellen.1 Doch diese Idee ist ihrem Wesen nach eine unwahre Idee: Orthodoxe, katholische und viele andere Christen glauben nämlich, dass die Kirche von ihrem innersten Wesen her einheitlich ist, dass sie sich daher eigentlich gar nicht spalten und darum auch nicht vereinigen kann.

Schon die Wortverbindung „Vereinigung der Kirchen“ 2erweist sich als eine List, die von den beteiligten Parteien sogleich bemerkt wird. In Wirklichkeit kann die Einheit und Einigung der ganzen christlichen Welt nicht Angelegenheit von Kirchenleitungen und deren Verhandlungen, Übereinkommen und Kompromissen sein. Vielmehr wird sie in der Tiefe und nicht an der Oberfläche erreicht. Diese Einheit kann nur in der Sphäre des geistigen Lebens und der geistigen Erfahrung erworben werden, nicht an der Oberfläche kirchlicher Politik. 

Für die christliche Einheit ist es erforderlich, die Bedeutung der Kirchenpolitik, die von jeher ein Quell der Zwietracht in der Christenheit war, zu verringern, sie auf ein Minimum zu reduzieren. Es ist erforderlich, das sündige Streben nach Macht nicht aufkommen zu lassen. Alles Reden und alle Verhandlungen über die Vereinigung der Kirchen sind im Grunde die schlechteste Methode für eine Vereinigung der Christen. Sie führen oft nur zu vermehrtem Zwist. Nicht an der Oberfläche, nicht horizontal, nicht räumlich-geographisch muss man sich weiterbewegen, sondern in die Tiefe und in die Höhe – also vertikal. Die Einheit der christlichen Welt kann man in der Tiefe und in der Höhe erlangen, wo alle in Christus geeint sind, nicht aber auf der horizontalen Oberfläche, wo Streit und Spaltungen herrschen. 

Der Orthodoxe, der Katholik, der Protestant usw. können, während sie in ihrer Kirche, in ihrem konfessionellen Typus bleiben, in der Höhen- und Tiefendimension zur Einheit und Brüderlichkeit gelangen und die Trennung überwinden. Diese wahre Vereinigung der Kirchen kann nur ein Werk des Heiligen Geistes sein, und dieses Werk wird eine wunderbare Tatsache der Weltgeschichte werden. Wir können uns dieser Aufgabe nicht stellen, indem wir Politik anstelle der Pneumatik 3 setzen. 

Wir können und müssen uns einer anderen Aufgabe stellen: der Einung der Christen des Ostens und des Westens – der Orthodoxen, der Katholiken, der Protestanten usw. – in geistiger Gemeinschaft, in gegenseitigem Kennenlernen und in einem liebevollen Verhalten zueinander. Das ist dann keine formale Frage, sondern eine Frage des geistigen Gerichtetseins, eine Frage der geistigen Erfahrung. Nicht eine organisierte Vereinigung der Kirchen ist zu erstreben, sondern eine Vereinigung der Christen in der Tiefe, ein gegenseitiges sich Kennenlernen und vermehrte gegenseitige Liebe aller Christen aller Konfessionen und Überwindung der gegenseitigen Feindschaft und des Streits. 

Die Lage des Christentums in der Welt hat sich heute sehr verändert. Es ist keine äußerlich beherrschende Macht mehr. Gegen das Christentum haben weltweit Verfolgungen eingesetzt. Und die sich nun anbahnende geschichtliche Bewegung ist nicht mehr durch den Kampf der Katholiken gegen die Protestanten oder der Orthodoxen gegen die Katholiken usw. bestimmt, auch nicht dadurch, dass die Heiden dem Christentum zugeführt werden müssen, sondern durch den Kampf der christlichen Mächte gegen die antichristlichen.

Für die Christen aller Konfessionen besteht immer die Möglichkeit, für eine Vereinigung der christlichen Welt zu beten, die anderen Konfessionen besser kennenzulernen und zu erforschen, Zwist und Feindschaft zu überwinden, Wohlwollen und Liebe zueinander zu mehren und in ein ökumenisches geistig-geschwisterliches Verhältnis in Christus zueinander zu treten. Das Reich Gottes naht unsichtbar (vgl. Lk 17,20); aus der Tiefe heraus wird es erschaffen. Jeder von uns kann an der Schaffung von Keimzellen des einen, christlichen, geistigen Organismus4 mitarbeiten.

Der Orthodoxe kann weiterhin Orthodoxer, der Katholik Katholik und der Protestant Protestant bleiben. Aber aus dem Inneren seines konfessionellen Typus heraus kann jeder der Einheit und der Ökumenizität zustreben, indem er die Ökumenizität innerlich geistig, nicht aber äußerlich organisatorisch fasst.

Der Heilige Geist wird die Kirchen vereinigen, wenn hierzu die Stunde gekommen ist, die Gottes Vorsehung bestimmt hat. Die christliche Menschheit muss aber den geistigen Boden hierfür bereiten. Ein derartiger geistiger Boden kann nur die tiefe Vereinigung in der Liebe, das gegenseitige Kennenlernen, das Gebet füreinander und miteinander und ein Hineinleben in die Brüderlichkeit in Christus sein. 

Vielleicht wird die Kirchenvereinigung und die Ökumenizität des Christentums sichtbar und erst völlig verwirklicht werden, wenn das Ende der Zeiten gekommen ist. Innerlich aber danach zu streben und uns geistig darauf vorzubereiten, das ist in jedem Augenblick unseres Lebens unsere heilige Pflicht.

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