Martin Gögler, röm.kath.Pfarrer i.R., Ottmaring
Die Reformation markiert eine echte Zäsur in der Geschichte allgemein und der Kirchengeschichte. Es ist der Beginn der Neuzeit, der Zeit, wo alte Ordnungen aufhören, das Leben der Menschen total zu prägen. Die Bibelübersetzung von Martin Luther ermöglicht vielen, die Bibel selber zu lesen. Das Wort Gottes wird neu entdeckt. Ganz starke Erneuerungsimpulse gehen davon aus. – Neu entdeckt?

Es lohnt sich, um Einseitigkeiten in der Bewertung zu vermeiden, ganz bewusst hinzuschauen, wie das denn mit dem Wort Gottes war in der Zeit vor 1500, alle die Jahrhunderte zurück bis zur Urfassung der ntl. Schriften im 2. Jahrhundert.

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Es gab noch keinen Buchdruck. Die Texte der Bibel wurden von Mönchen abgeschrieben von Generation zu Generation. Beim Betrachten dieser Handschriften kann man nur staunen über die Buchstaben, die echte Werke der Malkunst sind. Wissenschaftler sind immer wieder überrascht, wie gewissenhaft da gearbeitet wurde. Sie konnten auch nachweisen, dass soviel wie keine sinnentstellenden Wiedergaben zu finden sind. Dabei wurden in den Skriptorien (Schreibstuben) die Texte diktiert. Die Schreiber mussten genau hinhören.

Die Worte der heiligen Schriften waren in all diesen Jahrhunderten die Grundlage für die Verkündigung in den Gemeinden. Unzählige Künstler haben sich von den Bildern der Bibel anregen lassen und haben Kirchen geschmückt mit ihren Gemälden und Skulpturen. Sie haben das Wort auf ihre Weise verkündet, lesbar für alle, auch die die nicht lesen gelernt hatten. Ganz zu schweigen von den Universitäten, wo es hoch qualifizierte Theologie gab, die sich immer an dem Wort Gottes orientierten. Schreiben und Abschreiben gehörte im Früh- und Hochmittelalter in den Bereich der Askese und galt gleichsam als eine Form des Gottesdienstes.

Erstmals wurde dies im 6. Jahrhundert vom gelehrten Mönchsvater [[Cassiodor]] (ca. 485–580) ausführlich in schriftlicher Form festgehalten. Dieser war zuerst hoher Beamter am Hof des Ostgotenkönigs Theoderich, später gründete er eine Mönchsgemeinschaft. In seinen „Unterweisungen in den göttlichen und weltlichen Wissenschaften„, die zwischen 551 und 562 entstand, formulierte er die Funktion des Abschreibens folgendermaßen:

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„Durch das Durchlesen der Hl. Schriften bilden sie zum einen ihren Geist auf heilsame Weise, zum anderen verbreiten sie durch das Abschreiben weithin die Anordnungen des Herrn. Welch glückliches Vorhaben, welch lobenswerte Geschäftigkeit stellt es dar, mit der Hand den Menschen zu predigen, mit den Fingern die Zungen zu lösen, schweigend den Sterblichen das Heil zu bringen und gegen die unfairen Verlockungen des Teufels mit Schreibrohr und Tinte zu kämpfen. … Sein Werk wird an geheiligten Orten gelesen; die Völker hören, wie sie sich von einem schlechten Lebenswandel bekehren und Gott mit reinem Herzen dienen können. Als Mensch vervielfacht er die himmlischen Worte und – im übertragenen Sinn, wenn es Recht ist, das zu sagen – schreibt er mit drei Fingern, was die heilige Dreifaltigkeit ausspricht… Diesen Schreibern haben wir zur Ausschmückung der Handschriften auch gebildete Künstler beigestellt, damit ein schöner Anblick die Schönheit der Hl. Schrift darüber hinaus schmückt…“

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Diese Textstelle kann in seiner Bedeutung für die Ausrichtung von Klöstern als Bildungszentren und für die Überlieferung antiker Literatur nicht hoch genug eingeschätzt werden. Durch die Aufforderung, heilige Texte im Kloster abzuschreiben, weil dies eine Form von Gottesdienst, ja ein Kampf gegen den Teufel darstelle, wurde gleichsam die klösterliche Schreibstube, das [[Skriptorium]] „erfunden“. In Kombination, mit der nur wenige Jahre die zuvor entstandene Mönchsregel des [[Benedikt von Nursia]] (489-543) in der Kombination von Gebet und Arbeit betont wurde, fand das Element des Schreibens im Kloster seinen fixen Platz.