Walter Goll
Jesus sehen
Jesus zu sehen bzw. ihn zu kennen scheint etwas Selbstverständliches für uns Christen zu sein. Jedoch wissen wir, dass man Ereignisse und Menschen sehr verschiedenartig sehen und betrachten kann. Je nach Blickwinkel, gemachter Erfahrung oder auch entsprechend der Intensität der gelebten Beziehung zu jemandem sieht man einen Menschen auf unterschiedliche Weise. Die Augen eines jungen, verliebten Mannes richten sich ganz anders auf die Geliebte als die Augen eines verschüchterten Mädchens auf den strengen Lehrer, der sie gerade zurechtweisen will.
Auch von den Jüngern Jesu kennen wir verschiedenartige Szenen, in denen sie Jesus recht unterschiedlich sehen. Da ist der faszinierte Blick auf den Rabbi, der sie gerade in die Nachfolge gerufen hat. Davon unterscheidet sich der Blick des Petrus auf ihn, als Jesus seinen Leidensweg ankündigt. Dann wiederum rätseln die Emmausjünger, wer der sein könnte, der sie begleitet. Sie sehen ihn und sehen ihn doch nicht, weil ihre Augen gehalten sind. Dabei haben sie zuvor schon so viel mit ihm erlebt! Und Maria Magdalena meint den Gärtner zu sehen, als der Auferstandene vor ihr steht. Die Blindheit des Saulus, der sich ganz für Gott einsetzt, ist charakteristisch für den, dem sich Jesus noch nicht wirklich zu erkennen gegeben hat. Dann aber werden seine inneren Augen geöffnet und er sieht Jesus in einer völlig überraschenden Weise. Diese neue Sicht vertieft sich immer mehr und krempelt sein Leben um. Mit neuen Augen für Jesus bekommt Paulus auch eine neue Identität und eine neue Sendung hin zu den Menschen.
Unattraktiver Anblick
Im Brief an die Galater stellt der Apostel Paulus etwas fest, das uns in dieser Frage neugierig machen muss: O unverständige Galater! Wer hat euch bezaubert, denen Jesus Christus als gekreuzigt vor Augen gemalt wurde? (Gal 3,1)
Die Galater teilen anscheinend nicht mehr die ursprünglich ihnen nahegebrachte Sicht von Jesus, dem Messias. Als Gekreuzigter war er ihnen vor Augen gemalt worden. Menschlich ist das durchaus verständlich. Attraktiv ist dieser Anblick dessen, der geplagt, gepeinigt und verhöhnt und schließlich gekreuzigt wurde nun wirklich nicht. Im Gegenteil, er hatte keine schöne und edle Gestalt, so dass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet (Jes 53,2b+3).
Es ist für das religiöse Empfinden richtig ärgerlich, den Sohn Gottes und damit eigentlich Gott selbst an diesem Fluchholz hängen zu sehen. Für den menschlichen Verstand ist es geradezu absurd und töricht, aufgrund eines solchen Verbrecherszenarios vom Heil der Welt zu reden. Nicht nur zur Zeit der Emmausjünger hat es diese Art von Blindheit gegeben, die sich an dem Ereignis des Kreuzestodes Jesu gestoßen hat. Selbst hinterher, nach der Auferstehung Jesu, des zuvor Gekreuzigten, als sich dieses Evangelium von Jesus Christus schnell verbreitet und zu Gemeindegründungen geführt hatte, konnte es erneut zu wesentlichen Verzerrungen des Blicks auf Jesus kommen. Andere Aspekte des Lebens und der Person Jesu haben sich auch unter denen, die sich zu Jesus bekennen, in den Vordergrund geschoben.
Liebesgeschichte Gottes
Eigentlich geht es darum, die Liebesgeschichte Gottes mit uns Menschen und seiner ganzen Schöpfung immer besser zu verstehen und sich davon erfassen zu lassen. Das wunderbare Ziel Gottes ist es, mitten unter den Menschen wohnen zu können. Er möchte sein Leben in einer herzlichen und sogar leidenschaftlichen Liebesbeziehung teilen. Er möchte all seinen Geschöpfen ganz nahe sein. Die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel, wie sie uns die Bibel schildert, zeigt anschaulich etwas davon. Darin wird aber auch sehr deutlich, welches Drama daraus entstanden ist. Liebe kann ja nicht erzwungen werden, deshalb hat der Mensch auch die Freiheit, diese Liebe zu verschmähen. Doch beharrlich, so beharrlich und mit unendlicher Geduld wirbt Gott um sein Volk und um alle Menschen. So ist es nur der wahrhaftigen Liebe möglich, weil sie nie aufhört und alles erhofft.
Skandalöse Zuspitzung
Zugespitzt hat sich dieses Liebeswerben Gottes im größten Skandal aller Zeiten. Dieser Skandal, der die bedeutendste Geschichtszäsur überhaupt darstellt, ist zugleich der größtmögliche Liebesbeweis Gottes. Die Sendung des Sohnes Gottes aus der himmlischen Welt als Mensch auf diese Erde, die sich in der Tragödie am Kreuz auf Golgatha so unerhört zugespitzt hat, müsste eigentlich der wirkungsvollste Augenöffner für die Liebe Gottes sein. Ob das so gesehen werden kann, ob Gott selbst so gesehen werden kann, das entscheidet alles. Diese unfassbare Liebesinitiative Gottes, durch die er uns so außerordentlich offenherzig und damit zugleich verletzbar nahegekommen ist, ermöglicht uns Ungeheuerliches. Was zuvor undenkbar war, wenn auch höchst ersehnt, wird durch Jesus möglich: Wer mich sieht, der sieht den Vater (Joh 14,9).
Wer den leidenden und sterbenden Jesus sieht, der sieht auch den leidenden Gott, den Schöpfer und Erhalter des ganzen Universums. Der sieht, was den liebenden Gott seine Liebe gekostet hat. Der sieht aber auch die herrliche Bedeutung dieses skandalösen Geschehens. Am Anfang des Galaterbriefs beschreibt der Apostel Paulus es so: Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat, damit er uns herausreiße aus der gegenwärtigen bösen Welt nach dem Willen unseres Gottes und Vaters (Gal 1,4). Jemand hat es einmal so ausgedrückt: „Wir müssen bedenken, dass wir nicht errettet wurden durch einen wundertätigen Heiland, auch nicht durch einen predigenden, sondern durch einen sterbenden Heiland”.
Wer so herausgerissen und gerettet wurde, dem wird endlich durch den Glauben ermöglicht, dem Liebeswerben des himmlischen Vaters angemessen zu antworten: Er kann ihn wieder lieben und überhaupt liebesfähig werden. Das Geschenk des Glaubens eröffnet uns auf dem Hintergrund des Kreuzesgeschehens eine ganz neue Identität. Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Zuchtmeister; denn ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus (Gal 3,25+26). Der Begriff Söhne meint hier nicht in erster Linie den geschlechtsspezifischen Aspekt, vielmehr drückt sich darin die hohe Würde aus, ein mündiges Glied der Gottesfamilie zu sein. In dem Maß, in dem wir das sind, wächst auch unsere Liebesfähigkeit gegenüber Gott, den Menschen und der ganzen Schöpfung.
Das Geschenk erneuerter Liebe
Auch Pilatus lenkt unseren Blick auf diese erbärmliche Figur des dornengekrönten Jesus mit den Worten: Da, schaut ihn euch an, den Menschen! (Joh 19,5 nach Klaus Berger) Die Kreuzigung Jesu, des Gottessohnes, die durch seine Auferweckung aus den Toten als universelle Heilstat beglaubigt ist, ermöglicht nun auch durch den Geist die Neugeburt und damit die Sohnschaft im Geist. Damit nimmt uns Jesus in diese unvergleichliche Liebesbeziehung zum himmlischen Vater mit hinein. Unsere neue Identität versetzt uns in Christus in diese engste Verwandtschaftsbeziehung zum Vater, die geprägt ist von dem Geschenk des Urvertrauens und uns in eine heilige Vertrautheit mit ihm führt. Distanz, Kühle oder Abgeklärtheit haben da keinen Platz mehr und zugleich sind tiefe Hochachtung und Ehrfurcht Ausdruck unserer stets vom Heiligen Geist erneuerten Liebe.
Auf die Offenbarung dieser Wirklichkeit wartet die ganze Schöpfung sehnlichst (Röm 8,19-23). Damit der Durchbruch zu dieser Herrlichkeit, die dann unübersehbar sein wird, geschehen kann, sind wir eingeladen, durch den Blick auf den Gekreuzigten uns in unserer neuen Identität stärken zu lassen. So werden wir zu wirklichen Dienern und Dienerinnen Gottes und der Menschen, ja der ganzen bewohnten Erde. Lasst uns hinschauen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, der um der vor ihm liegenden Freude willen die Schande nicht achtete und das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Denn betrachtet den, der so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet hat, damit ihr nicht ermüdet und in euren Seelen ermattet (Hebr 12,2+3). Ja, Jesus, den Gekreuzigten vor Augen zu haben verhilft uns zur Klarheit. Das vermittelt eine Hoffnung, die weit über unsere persönlichen Angelegenheiten hinausgeht.