Traumatisiert durch zwei schwere Kriege war Deutschland in den Wiederaufbau des zerstörten Landes gestartet. Kriegstraumata wurden nicht bearbeitet, und es war nicht üblich, emotionale Nöte zu verbalisieren oder über die Schrecken des Krieges zu sprechen. Durch harte Arbeit wurden traumatische Situationen abgespalten.

Nicht bearbeitete Traumata speichert unser Körper. Unsere Seele und unser Geist tragen die Last. Das führt zu einer Flucht in Materialismus, aber auch die Anhäufung von Wohlstand kann die tiefen Wunden nicht heilen. Äußere Sicherheit bringt keine innere Sicherheit und keinen Seelenfrieden. Unsere DNA speichert die Dramen und gibt sie an die nächste Generation weiter.

In seinem Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie“ diagnostizierte Alexander Mitscherlich im Jahr 1963 den Verfall väterlicher Autorität.

Der verlorene Krieg, das Bewusstsein entsetzlicher Gräueltaten, bedingt durch Kadavergehorsam, führten zu einer tiefen Identitätskrise männlicher Führung. Eine Unzahl von Vätern ließ ihr Leben oder kehrte traumatisiert und verändert zurück. Sie waren unberechenbar und kaum ansprechbar. Frauen mussten stark werden und die Führung übernehmen.

All das zusammen führte zu der tiefen Sinnkrise, in der wir uns heute befinden. Grundfesten der Identität sind erschüttert bis hin zur heutigen „Wählbarkeit“ des Geschlechts. „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ fragt ein Buchtitel des Philosophen Richard David Precht.

Kinder werden in diese Verunsicherung hinein geboren. Sie kommen mit zwei intuitiven Fragen auf die Welt: Wer liebt mich bedingungslos? Wer beschützt mich und gibt mir Sicherheit?

Fast nie werden diese existentiellen Fragen zufriedenstellend beantwortet. Meist sind schon die Eltern mit diesen Fragen ins Leere gelaufen. Um zu überleben, entstehen neue Fragen innerhalb des Systems Familie: „Was muss ich tun, damit ich geliebt bin? Wenn schon nicht geliebt, dann wenigstens anerkannt. Was muss ich tun, damit ich beschützt bin oder Kontrolle habe?“ Muss ich schwach und hilflos sein, um beschützt zu werden, oder durch Angst und Rebellion versuchen, negative Aufmerksamkeit zu erreichen?

Bindungsstile spielen eine große Rolle bei der Entwicklung dieser Strategien. Kinder können sich nur gesund entwickeln, wenn sie bereits im Mutterleib mit Freude und Liebe empfangen und erwartet werden. Sie nehmen die Gefühlslage der Mutter schon ab dem dritten Monat intuitiv wahr, und bereits jetzt fangen sie an, Reaktionsmuster zu entwickeln. Sind die Kinder ambivalenten elterlichen Gefühlen ausgesetzt oder gar klarer Ablehnung, sind dysfunktionale Bindungsstile vorprogrammiert.

Mütter sind, so gut sie es können, für Nestwärme und Annahme und für das herzliche Willkommen im Leben zuständig.

Das JA der Väter gibt dem geborenen Kind, Sohn oder Tochter, Identität und Daseinsberechtigung.

Dieses Ja bedeutet: Ich will dich, nehme dich an, übernehme Verantwortung für dich und deine Entwicklung, deinen Schutz, deinen Freiraum und deine Grenzen in Verantwortung und Liebe. Das ist väterliche Position und Auftrag. Nur seelisch gesunde und reife Männer können diese Väterlichkeit schenken. Ein Mann, der das nicht erlebt hat, der nie dieses Ja seines Vaters bekommen hat und keine Wärme der Mutter, ist gar nicht in der Lage, das an die eigenen Kinder weiterzugeben. Kinder und Heranwachsende in ihrer Selbstverunsicherung suchen ihren Weg und Wert meistens in unserer Leistungsgesellschaft durch Wohlverhalten und Leistung, durch zeitgemäßes Outfit, Sport oder durch Statussymbole. Dies löst aber eine permanente Innenspannung aus, denn SEIN oder NICHTSEIN hängen jeweils von diesen äußeren Bedingungen ab oder vom Applaus und der Zustimmung im Außen. Um diesen Druck loszuwerden, bietet sich der Griff nach Drogen an, nach Essen oder wechselnden Beziehungen. Manchmal führt diese Anspannung auch zu selbstverletzendem Verhalten oder Suizidalität. Wenn der innere und der äußere Druck zu intensiv werden, kommt es zu einem Zusammenbruch, der dann durch einen Klinikaufenthalt aufgefangen werden muss.

Diese Probleme entstehen in dem Primärsystem, der Ursprungsfamilie und werden meist in der Teenagerzeit und im jungen Erwachsenenalter deutlich sichtbar. Sind leibliche Väter auch Täter durch emotionale oder sogar sexuelle Gewalt, dann ist das Männerbild, Vaterbild mit zerstörerischer Energie beladen. Der junge Erwachsene erlebt sich als Opfer und spürt gleichzeitig die Opfer/Täter-Energie zerstörerisch im eigenen Leben. Diese Problematik zeigt sich dann in der therapeutischen Bearbeitung, meist nach einem Klinikaufenthalt im Rahmen einer therapeutischen Gemeinschaft. Nur schwer kann wieder Vertrauen aufgebaut werden. Die Beziehung zum Therapeuten wird immer wieder auf die Probe gestellt. Oft dient er als Projektionsfläche für Täterprojektionen, bis der junge Erwachse dann in der Lage ist, sich seiner inneren Problematik zu stellen.

Es braucht Zeit, den Mangel im Herzen und im Leben zu betrauern, um dann Anklage zu erheben gegen die Eltern und auch Gott. In einem Raum von Annahme, Liebe und Ehrlichkeit kann es dann zur Nachreifung kommen. Männliche therapeutische Mitarbeiter, die eine gute väterliche Kompetenz tragen und Modell für Vaterschaft und Vatersegen sein können, sind in diesem Prozess der Ambivalenz der verletzten jungen Menschen ausgesetzt. Wenn Mitarbeiter aber in einer Haltung von Liebe und Annahme die Ambivalenz und die Macht der Wut aushalten, in Beziehung bleiben, nicht ablehnen, sondern weiter lieben, vorsichtig Geländer setzen und neue Wege auftun, dann können Schritte auf dem Weg zur Heilung gegangen werden. Letztendlich sollten alle Väter ein Symbol und Repräsentant der unendlichen Liebe unseres himmlischen Vaters sein. Aber diese Vollkommenheit gibt es nicht bei unvollkommenen Menschen. Und doch zeigt sie sich immer wieder, zum Beispiel, wenn männliche Therapeuten bereit sind, Fehler zuzugeben, Klienten bei Ungerechtigkeiten um Vergebung zu bitten.

Falls es in den begleiteten Prozess der Aufarbeitung passt, ist es möglich, im Rahmen einer Familienaufstellung oder einer Aufstellung des inneren Systems stellvertretend für die Bezugspersonen Verantwortung für das Unrecht zu übernehmen und stellvertretend um Vergebung zu bitten. Das sind kleine Schritte auf dem Weg, sich dem eigenen Leben zu stellen, dieses Leben in seiner Gebrochenheit anzunehmen und sich mit der Unvollkommenheit des eigenen Lebens zu versöhnen. Mit sich und einem liebenden Gott versöhnte Mitarbeiter sind Wegweiser.


Autor

Friedegard Warkentin, Augsburg
Friedegard Warkentin, Augsburg

Diakonieverein Eserwall e.V.

  • Logo - Philadelphia-Verein

    Philadelphia-Verein

    Das Philadelphia-Werk ist ein konfessionell freies, christliches Werk. Mit seinen diakonischen Einrichtungen ist es Mitglied des Diakonischen Werks der evangelischen Kirche in Württemberg.

    Weitere Information…