Wir sind es als Christen gewohnt, Gott als Vater zu benennen, besser noch, ihn als Vater zu kennen. Letzteres ist nur möglich durch das Eingehen in die Beziehung zum Vater, die uns durch den Sohn ermöglicht ist. Diese Beziehung ist durch eine liebende Nähe und Vertrautheit gekennzeichnet. Das ist eigentlich undenkbar angesichts der Hoheit und Heiligkeit Gottes, die eben dadurch nicht relativiert oder gar aufgehoben wird. Erst recht scheint es in unserer Zeit aufgrund vielfacher Verdrehungen, Versäumnisse und Missbrauch für viele Menschen unangemessen zu sein, positiv vom Vater sprechen zu können. In dieser Studie wird anhand des neutestamentlichen Befunds diese Wirklichkeit des Vaterseins Gottes erschlossen

In kirchlichen Gottesdiensten weltweit ist diese liturgische Formel sehr vertraut: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Die neutestamentlichen Briefe belegen, dass schon in den frühen christlichen Gemeinden die Anrufung Gottes als Vater im gottesdienstlichen Gebrauch fest verankert gewesen ist (Röm 1,7; 1Kor 1,3; 2Kor 1,2+3; Röm 15,6; Eph 5,20; Kol 1,12). Diese sprachliche Gestalt der Gottesanrede ist Ausdruck einer Beziehung, die durch das Gott als Vater offenbarende Heilswerk des Sohnes begründet ist. In der besonderen Sprache des Johannesevangeliums ist „Vater“ geradezu Offenbarungswort.

Die von Jesus stets gebrauchte Vaterbezeichnung für Gott ist uns im Originalwort erhalten. Jesus hat „Abba“ gesagt (Mk 14,36). An einer solchen Redeweise ist neu, dass ein schlichter Kindeslaut aus dem Alltag ohne Bedenken auf Gott übertragen wird. Mit dieser einfachsten und herzlichsten Aussage über Gottes Verhalten vollzieht Jesus zugleich eine Absage an jedes gekünstelte religiöse Pathos. Die höchste emotionale Nähe und Vertrautheit, die in der Abba-Anrede liegen, darf nicht mit einer plumpen Vertraulichkeit verwechselt werden. Göttliche Hoheit und Machtfülle finden sich hier in keiner Weise sprachlich nivelliert.

Jesus offenbart den Vater (Joh 1,18; 8,26ff). Der Sohn lebt nur auf Grund des Vaters (Joh 6,57), ist eins mit ihm (Joh 10,30) und hat unbegrenzten Anteil an ihm (Joh 16,15; 17,10). Der Vater ist der Beauftragende, der den gehorsamen Sohn zum Vollstrecker seines Willens, zum Vollender seines Werkes macht, und damit offenbart er sich im Sohn. Die tiefste Charakteristik für das gegenseitige Verhältnis ist Liebe. „Der Vater liebt den Sohn“ (Joh 3,35). Die Einheit von Vater und Sohn wirkt sich darin aus, dass der Vater Reden und Handeln des Sohns bestimmt (Joh 5,19; 8,28; 12,49). „Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart“ (Joh 17,6) fasst die gesamte Lebensarbeit Jesu zusammen. In der Hingabe des Lebens erhält die Einheit von Vater und Sohn ihren endgültigen Ausdruck. Hier werden alle Momente der Offenbarung des Vaterseins Gottes zusammengefasst: Das Lieben als des Vaters innerste Zustimmung zur Lebenshingabe (Joh 10,17: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse …“), das Gehorchen des Sohnes als äußerster Beweis des befolgten Gebotes des Vaters (Joh 14,31), das Verherrlichen des Vaters als Ziel. (Joh 13,31; 17,1ff)

Die Art, in der Jesus die Wendungen „mein Vater“ und „euer Vater“ gebraucht, ist bedeutsam. Aus dem „mein Vater“ spricht sein unübertragbares Verhältnis zu Gott. Überall, wo es auftritt, wird das besondere Sohnesbewusstsein sichtbar. Er bezeichnet Gott nirgends als den Vater Israels.

Nur seinen Jüngern gegenüber gebraucht Jesus die Wendung „euer Vater“, damit wird Gottes Vaterschaft an das Verhältnis zu ihm selbst gebunden.

Jesus lehrt die Jünger, wie sie Gott als ihren Vater erkennen und anreden können, aber er hat sich nie mit ihnen in einem gemeinsamen „unser“ zusammengeschlossen. Das Vaterunser ist als Jesu Gebetslehre Jüngerrede. Diese Unterscheidung wird besonders deutlich im singulären „euer“ im Johannesevangelium als Wort des auferstandenen Herrn, erst jetzt macht dieser für seine Brüder seinen Gott und Vater in endgültiger Weise zu dem ihrigen: „Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem Gott und eurem Gott.“ (Joh 20, 17

Jesus hat gesagt: „Niemand kommt zum Vater als nur durch mich“ (Joh 14,6). Durch ihn haben seine Jüngerinnen und Jünger die Gotteskindschaft erlangt. Durch den Heiligen Geist gewinnen sie ein solch inniges Verhältnis zu Gott, dass auch sie das „Abba, lieber Vater“ rufen (Röm 8,15). Die Nennung des Vaters vollzieht sich nicht nur in dogmatischer Lehre, sondern vor allem im Lobpreis, im Segen, in liturgischer Sprache. Der Herrschaftscharakter Gottes ist als Vaterschaft vermittelt. Es geht um den Willen (Gal 1,4) und die Erwählung des Vaters (1Petr 1,2). Der Vaterglaube wird mit dem letzten Ziel der Regierung Gottes verbunden (Phil 2, 10f). Es ist hinreichend deutlich geworden, dass das theologische Vaterverständnis in den urchristlichen Gemeinden Gott immer als „Vater unseres Herrn Jesu Christi“ versteht. In vielem spiegelt der neutestamentliche Sprachgebrauch die Züge der jüdisch-patriarchalischen Vaterautorität in einer hauswirtschaftlichen Familiengemeinschaft wider, aber die besondere Akzentuierung in der Art, in der Jesus vom Vater spricht, erlaubt uns zu sagen, dass die Einzigartigkeit dieser Vater-Sohn-Beziehung weit über ein traditionelles Verständnis hinausgeht.

Die Intensität, mit der Jesus Gott Vater nennt, verdeutlicht, dass die Vaterbezeichnung Gottes nicht einfach eine Metapher ist, sondern die sprachliche Benennung das Wesen Gottes ausdrückt. Gott ist nicht wie ein Vater, er ist Vater im ursprünglichsten Sinn.

Vor diesem Vater, schreibt Paulus (Eph 3,14), beuge er seine Knie. Und dann erklärt er, dass von dem Vatersein Gottes eine Signatur in allen sozialen Beziehungen, die nach einer väterlichen Autorität geordnet sind, zu finden sei. Im Vatersein Gottes ist begründet, dass auch in den verschiedenen Bereichen der Schöpfung – in Himmel und Erde – überhaupt erst von Vaterschaft gesprochen werden kann. Eine Vorstellung eines allgemeinen Vaterseins Gottes findet sich auch im Jakobusbrief (Vater der Lichter, Jak 1,17) und im Hebräerbrief (Vater der Geister, Heb 12,9).

Abscheulicher Machtmissbrauch, toxische Übersteigerung und Verdrehung väterlicher Autorität und eine vielfach erfahrene Verantwortung flüchtende Abwesenheit eines menschlichen Vaters erschweren in unserer Zeit die Vorstellung einer Vaterschaft Gottes. Für viele Menschen erscheint es völlig inakzeptabel, ihm sogar noch Gehorsam und liebende Verehrung entgegenbringen zu sollen. Das mag so sein, die Heilung liegt aber nicht in der Abschaffung des Vaterbegriffs überhaupt, sondern in der Anerkennung des wahren Vaters, wie er uns einzig durch seinen Sohn Jesus offenbart wird. 


Autor

Pfr. Martin Spindler
Pfr. Martin Spindler, Lüdenscheid

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