„DEIN Blut komme über uns… GNÄDIGLICH“

Michael Decker 

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Ein tiefer Riss trennt das Gottesvolk des alten und des neuen Bundes. Für Jesus war er absehbar. Jesus sagte voraus: „Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“ (Mt 11,6). Der Konflikt spitzte sich zu, als die Volksmenge in Jerusalem vor Pilatus schrie: „Lass ihn kreuzigen… Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25) Wie ein Fluch mit verheerender Wirkung für unzählige Menschen ziehen diese Worte durch die Weltgeschichte.

In vielen Generationen der letzten 2000 Jahre wurden sie als Vorwand für blutige Verfolgungen missbraucht. Denn immer wieder erhoben Christen Anklage: „Ihr Juden habt Jesus gekreuzigt, ihr seid die Gottesmörder!“ Unter diesem Vorwurf nahmen sie sich das Recht heraus, „Gottesurteile“ an Juden zu vollstrecken, indem sie von ihnen forderten: „Taufe oder Tod!“ Juden ihrerseits wehrten sich gegen diese Vorwürfe. Jahrhundertelang baten sie Gott täglich, „die Sekte der Nazarener zu vertilgen“ (vgl. den früheren Wortlaut der 12. Bitte im Achtzehnbittengebet).

Es ist ein weiter Weg vom Verhör Jesu in Jerusalem bis zu den Worten im Einheitsgebet. Aus der alten Selbstverfluchung wird eine Bitte: „Dein Blut komme über uns… gnädiglich!“ Der Beter heute sucht Gottes Herz, damit er den tiefen Riss zwischen Judenheit und Christenheit doch endlich heilen möge. Denn die erste Beziehung, die im Volk Gottes geheilt werden muss, ist die zwischen Christen und Juden. In dieser Trennung liegen die Ursachen für die großen Nöte der ganzen Menschheit schlechthin. Bereits vor 150 Jahren übten Mitglieder der katholisch-apostolischen Gemeinden eine inklusive Gebetspraxis. Sie machten nicht die Juden oder frühere Generationen für die tiefe Spaltung verantwortlich, sondern in ihren Bußliturgien bekannten sie sich selbst zu der gemeinsamen Schuld aller Gotteskinder: „Wir bitten dich, schaue herab in deiner Barmherzigkeit auf dein zerstreutes und zertrenntes Volk… Die Sünden vieler Zeitalter und Geschlechter ruhen schwer auf uns; wir und unsere Väter haben gesündigt, und wir tragen gemeinsam an der Schuld der ganzen Kirche…“

Die Väter des Einheitsgebetes griffen diese Praxis in verdichteter Weise auf. Sie fügten die alten jüdischen Worte bewusst und ohne Zusatz als Bitte ein. Sie nahmen keine Rücksicht darauf, dass es vielen heutigen Menschen fremd und schwer verständlich erscheinen mag, so zu beten. Denn es geht nicht in erster Linie um Verständlichkeit, sondern darum, dem ernsten Anliegen entsprechend die Schuldgeschichte des ganzen Gottesvolkes zu fassen. Dabei bleibt dem Einzelnen dieser Horizont immer zu hoch und zu fremd. Der Riss zwischen Juden und Christen ist zu groß und die Last ist zu schwer, als dass Menschen – selbst mit ihren besten Absichten und Kräften – diesen Schaden bewältigen oder aufarbeiten könnten. Nur die Kraft der Erlösung Jesu am Kreuz reicht bis in die Tiefe, in der letzte Heilung geschehen kann. Der Zusatz „gnädiglich“ drückt diese Überzeugung aus, dass nur Gott selbst die Versöhnung vollbringen kann. Doch wir sollen und dürfen ihn mit ganzem Verlangen darum bitten.

In Jesus Christus haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade.
Eph 1,7