Wie kann Gott inmitten unsagbaren Leids entdeckt und wirklich relevant werden? In der Fortsetzung dieser Tagebuchauszüge (der erste Teil stand im vorherigen Heft) der niederländischen Jüdin Etty Hillesum (1914–1943) werden überraschende Einsichten laut. Inmitten des Lebens im KZ Auschwitz wird ihr radikal denkendes Herz offenbar, das den Weg zu Gott freilegen will, um Gottes und der Menschen willen.
Das Leiden tastet die Würde des Menschen nicht an. Ich meine damit: Man kann menschenwürdig und menschenunwürdig leiden. Ich meine damit: Die meisten Menschen des Westens verstehen die Kunst des Leidens nicht und haben tausend Ängste davor. Das ist kein Leben mehr, wie die meisten Menschen leben: in Angst, Resignation, Verbitterung, Hass, Verzweiflung. Mein Gott, man kann es so gut verstehen. Aber wenn ihnen dieses Leben genommen wird, dann wird ihnen doch nicht viel genommen? Man muss den Tod als einen Teil des Lebens akzeptieren, auch den schrecklichsten Tod. Aber erleben wir nicht jeden Tag ein ganzes Leben, und macht es denn viel aus, ob wir ein paar Tage mehr oder weniger leben? Ich bin jeden Tag in Polen auf den Schlachtfeldern, so könnte man sagen, manchmal drängt sich mir eine Vision von giftgrünen Schlachtfeldern auf; ich bin bei den Hungernden, bei den Misshandelten und Sterbenden, jeden Tag bin ich dort, aber ich bin auch hier bei dem Jasmin und dem Stück Himmel vor meinem Fenster, in einem einzigen Leben ist für alles Platz. Für den Glauben an Gott und für einen elenden Untergang (S.122).
Es gibt heutzutage nur zwei Möglichkeiten: Entweder man denkt nur noch rücksichtslos an sich und seine Selbsterhaltung, oder man muss auf alle persönlichen Wünsche verzichten und sich dem Schicksal ergeben. Für mich bedeutet Ergebung nicht Resignation oder Entsagung, sondern den Versuch, nach besten Kräften dort zu helfen, wo Gott mich zufällig hinstellt, und mich nicht nur dem eigenen Kummer und Ärger hinzugeben (S.138).
Und wenn Gott mir nicht weiterhilft, dann muss ich Gott helfen
… Gestern war ein schwerer, sehr schwerer Tag, an dem ich viel leiden und innerlich verarbeiten musste. Aber ich habe alles überwunden und kann heute wieder mehr ertragen als gestern. Vermutlich ist das der Grund für die innere Heiterkeit und Ruhe: Ich weiß, dass ich mit allem fertig werde, ganz allein damit fertig werde und dass die Augenblicke der tiefsten Traurigkeit und Verzweiflung fruchtbare Spuren in mir hinterlassen und mich stärker machen. Ich mache mir nichts vor über die wirklichen Umstände und verzichte sogar auf den Anspruch, anderen Menschen helfen zu wollen. Ich werde mich immer bemühen, Gott so gut wie möglich zu helfen, und wenn mir das gelingt, nun, dann wird es mir bei den anderen auch gelingen. Aber man sollte sich keine heroischen Illusionen darüber machen (S.144/145).
Mittwoch morgen, 9 Uhr. Oft, wenn ich in Westerbork zwischen den lärmenden, zänkischen und allzu aktiven Mitgliedern des Jüdischen Rates zu tun hatte, dachte ich: Ach, lasst mich doch ein Stückchen eurer Seelen sein. Lasst mich die Aufnahmebaracke sein von dem Besseren in euch, das doch sicherlich in jedem von euch vorhanden ist. Ich brauche gar nicht viel zu tun, ich will nichts als sein. Lasst mich in diesem Körper die Seele sein. Und an allen Menschen gewahrte ich gelegentlich eine Geste oder einen Blick, die weit über ihr eigenes Niveau hinausgingen und deren sie sich vermutlich selbst kaum bewusst waren. Und ich fühlte mich als deren Hüterin (S. 174).
Auch wenn man Schmerzen im Körper hat, kann doch der Geist weiterwirken und fruchtbar sein. Und lieben und „hineinhorchen“ in sich und andere, und forschen nach Zusammenhängen in diesem Leben und nach dir. „Hineinhorchen“, dafür möchte ich einen guten holländischen Ausdruck finden. Eigentlich ist mein Leben ein unablässiges „Hineinhorchen“ in mich selbst, in andere und in Gott. Und wenn ich sage, dass ich „hineinhorche“, dann ist es eigentlich Gott, der in mich „hineinhorcht“. Das Wesentlichste und Tiefste in mir, das auf das Wesentlichste und Tiefste in dem anderen horcht. Gott zu Gott (S. 175/176).
Wie groß ist doch die Not deiner Geschöpfe auf dieser Erde, mein Gott. Ich danke dir, dass du so viele Menschen mit ihren inneren Nöten zu mir kommen lässt. Sie sitzen ruhig und arglos da, sie reden mit mir, und plötzlich bricht ihre nackte Not heraus. Und auf einmal sitzt da ein verzweifeltes Häufchen Mensch und weiß nicht, wie es weiterleben soll. Und da fangen die Schwierigkeiten für mich erst an. Es genügt nicht, nur von dir zu predigen, mein Gott, man muss dich in den Herzen der anderen erst aufspüren. Man muss den Weg zu dir im anderen freilegen, mein Gott …
Manchmal kommen mir die Menschen vor wie Häuser mit offen stehenden Türen. Ich gehe hinein, sehe mich in den Gängen und Zimmern um, jedes Haus ist ein wenig anders eingerichtet und doch gleichen sie einander. Man sollte aus jedem Haus eine Wohnung machen, die dir geweiht ist, mein Gott. Und ich verspreche dir, ich verspreche dir, dass ich in so vielen Häusern wie möglich Wohnung und Unterkunft für dich suchen werde, mein Gott. Das ist eigentlich ein lustiges Bild. Ich gehe einen Weg entlang und suche nach einer Unterkunft für dich. Es gibt so viele leerstehende Häuser, in denen ich dich als Ehrengast unterbringe. Verzeih mir dieses nicht allzu geistreiche Bild (S. 176/177).
In alle Lager von ganz Europa möchte ich kommen, an allen Fronten möchte ich sein, ich will gar nicht in sogenannter Sicherheit sein, ich will doch dabei sein, ich will an allen Orten, wo ich bin, ein wenig Verbrüderung zwischen den sogenannten Feinden stiften, ich will begreifen, was geschieht, ich möchte, dass so viele Menschen, wie ich erreichen kann, … das Weltgeschehen aus meiner Sicht begreifen können (S. 198/199).
Wenn ich nachts auf meiner Pritsche lag, mitten zwischen leise schnarchenden, laut träumenden, still vor sich hin weinenden und sich wälzenden Frauen und Mädchen, die tagsüber so oft sagten: „Wir wollen nicht denken“, „wir wollen nichts fühlen, sonst werden wir verrückt“, dann war ich oft unendlich bewegt, ich lag wach und ließ die Ereignisse, die viel zu vielen Eindrücke eines viel zu langen Tages im Geist an mir vorbeiziehen und dachte: Lass mich dann das denkende Herz dieser Baracke sein. Ich will es wieder sein. Ich möchte das denkende Herz eines ganzen Konzentrationslagers sein (S. 200).
„Vorwegnehmen“… So wie ich hier seit gestern Abend liege, bewältige ich ständig ein bisschen von dem vielen Leiden, das in der ganzen Welt bewältigt werden muss. Ich bringe im Voraus einen Teil der vielen Leiden des kommenden Winters unter Dach. Doch das geht nicht auf einmal. Heute wird es ein schwerer Tag für mich werden. Ich bleibe still liegen und „nehme“ etwas „vorweg“ von all den schweren Tagen, die noch kommen werden. Wenn ich leide um die Wehrlosen, ist es dann nicht um das Wehrlose, das in mir selbst ist? … Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein (S. 207).
Es genügt nicht, nur von dir zu predigen, mein Gott, man muss dich in den Herzen der anderen erst aufspüren. Man muss den Weg zu dir im anderen freilegen, mein Gott …
Teil 1
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Das denkende Herz – bei den Menschen
Etty (Esther) Hillesum wurde am 15. Januar 1914 in Middelburg in Holland geboren. Sie starb am 30. November 1943 in Auschwitz. Sie war Jüdin. In ihrem Elternhaus erhielt sie keine oder nur eine geringe Erziehung im jüdischen Glauben. Dennoch entwickelte sich in Etty Hillesum ein religiöses Bewusstsein, eine Beziehung zu Gott
Autorin
(1914 – 1943)
Mit freundlicher Genehmigung – Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Breisgau
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