Vereint zu sein, wie der Vater mit dem Sohn, das ist eine zentrale Bitte Jesu im Hohepriesterlichen Gebet. Es bedeutet im Vater und Sohn zu sein. Das hat mit Erkennen zu tun, mit dieser engen und intimen Beziehung der Liebe, die uns Gott ermöglicht. Dann wird auch mehr und mehr sein Wesen in uns Gestalt gewinnen, welch ein Wunder des Herzenseinklangs!
Der Vater ist untrennbar mit jener Entscheidung verbunden, die Leiden und Verherrlichung zur Folge hat. „Der Vater liebt mich“, sagt Jesus, „weil ich mein Leben hingebe“ (Joh 10,17). In diesem Satz wird die Liebe des Vaters nicht damit erklärt, dass er den Sohn gezeugt hat, sondern sie erscheint uns verursacht durch den Edelmut des Sohnes, der das Schlachtopfer sein will. Hier offenbart sich das Wesen des Vaters in einer Art, die uns überrascht und zutiefst bewegt.
Jesus stellt selbst eine Beziehung her zwischen seinem eigenen Willen, geopfert zu werden, und der Erkenntnis, die er von seinem Vater besitzt. „Wie der Vater mich kennt, so kenne ich den Vater; und ich gebe mein Leben für meine Schafe“ (Joh 10,15).
Das Erkennen des Vaters erreicht seinen Höhepunkt im Willen, sich opfern zu lassen, weil Gott Liebe und Hingabe ist.
Deshalb hat der Märtyrer von Gott eine so tiefe Erkenntnis und ist in einem wahren Sinn der vollkommene Theologe.
Die Anbetung des Vaters: „Die Stunde kommt, da ihr den Vater weder auf diesem Berge noch in Jerusalem anbeten werdet…“ (Joh 4,21). „Die Stunde kommt, und sie ist schon da, wo die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten werden.“ (Joh 4,23) Findet sich in diesen Worten Jesu an die Samariterin nicht ein augenscheinlicher Widerspruch? Wenn die Stunde kommt, wie ist sie dann schon gekommen? Wenn die Stunde gekommen ist, wie wird sie dann noch kommen? Doch beide Behauptungen sind wahr.
Die Stunde der reinen Anbetung im Geist und in der Wahrheit ist noch nicht gekommen, denn die Spaltungen bestehen fort unter denen, die an denselben Vater glauben − und sogar unter denen, die an den Sohn glauben. Jesus nimmt diese Spaltungen nicht leicht. Er stellt Samariter und Juden nicht auf dieselbe Ebene. Die Samariter, sagt er, beten an, was sie nicht kennen, während die Juden kennen, was sie anbeten, und „das Heil kommt von den Juden“. Ebenso wird das Licht Christi nicht in gleicher Weise rein gehalten bei all den Gruppen, die sich auf ihn berufen. Jerusalem und Garizim haben noch nicht aufgehört zu bestehen.
Indes, die Stunde ist schon gekommen, da die einzelnen Heiligtümer vor der Anbetung in Geist und Wahrheit zurücktreten. Für die Samariterin „ist“ diese Stunde schon da, sie ist schon gekommen, ist gegenwärtig − weil die Samariterin in diesem Augenblick vor Jesus steht und ihm ihre Seele erschließt. Die Stunde der reinen Anbetung ist gekommen in dem Maße, wie Jesus selbst zu uns spricht und wir auf ihn hören, denn Jesus enthält alle Wahrheit, und jeder Mensch, der auf ihn hört und ihn annimmt, findet mit innerer Folgerichtigkeit zu dieser vollen Wahrheit.
Jesus ist das genaue Abbild und der Widerhall des Vaters. Was Jesus ist, enthüllt uns auch zugleich den Vater. Jesus enthüllt sich uns aber als „sanft und demütig von Herzen“ (Mt 11,29). Wir sind gewohnt, uns den Vater als den Mächtigen vorzustellen. Ja, der Vater ist allmächtig. Aber das Herz des Vaters ist sanft und demütig wie das des Sohnes. Sanft: in ihm sind nichts Rauhes und Kantiges, keine Rücksichtslosigkeit, kein Ungestüm, sondern Wohlwollen, Güte, Feinheit. Demütig: nicht als ob der Vater sich vor einem Größeren beuge (wie der menschgewordene Sohn sich vor dem Vater niederbeugt), jedoch liebt er kein glanzvolles Auftreten und zieht die „ärmlichen“ Mittel vor; er vereinigt sich mit der Selbsterniedrigung des Sohnes, der unsere Natur und unser Leiden annahm. − Lernen wir, den Vater unter diesem Gesichtspunkt zu sehen.
Alles, was Jesus von seinem Herzen aussagt, bezieht sich eigentlich auf das Herz des Vaters. Das Herz des Vaters ist das Vorbild, dem das Herz Jesu sich nachbildet. Vielleicht sollten wir den Vater unter dem Bild eines Herzens sehen. Von ihm geht die erste Erregung aus, die sich überallhin fortpflanzt, die erste Liebe, die alle Dinge in Bewegung setzt, die Sterne und die Seelen. Jeder Schlag dieses Herzens bedeutet einen Akt der Hingabe. So gelangt das Blut des Sohnes zu uns, das durch den Hauch des Geistes das Leben empfing.
Das Herz des Vaters ist das Vorbild, dem das Herz Jesu sich nachbildet.
Der Vater ist das Herz. Gemäß dem Willen des Vaters leben, heißt, in der Abhängigkeit dieses Herzens leben, heißt, den Schlag unseres Herzens auf den Schlag des göttlichen Herzens abstimmen.
Jesus wurde Mensch, in ihm schlägt zum ersten Mal ein Menschenherz in vollkommenem Gleichklang mit dem Herzen Gottes. Zum ersten Mal wird ein menschliches Herz durch vollkommene Liebe zum Vater bewegt. Zum ersten Mal schlägt ein Menschenherz in vollkommener Liebe für die Menschen. Das menschliche Schicksal findet so höchste Vollendung in Christus, und diese Vollendung dauert fort, wird ewig währen wie der Gottmensch selbst. In Jesus, dem wahren Gott und wahren Menschen, bleibt das Los eines jeden Menschen eingeschrieben. Schon bevor er Fleisch annahm, liebte der Sohn die Menschen auf die vollkommenste Weise. Doch Gottes Herz war noch nicht mit einem Menschenherz vereint.
Jesus wurde Mensch, in ihm schlägt zum ersten Mal ein Menschenherz in vollkommenem Gleichklang mit dem Herzen Gottes.
Autor
Ein Mönch der Ostkirche
Aus: Aufblick zum Herrn – Zwiegespräch mit dem Erlöser, Basel 1961, S. 107-110