Allmacht?
Was bisher noch „der Natur“ vorbehalten war oder gar einem Rest von Schöpfungsglauben zugedacht blieb, droht jetzt vom Menschen in unbegrenzter Eigenregie übernommen zu werden.
Allmacht Gottes oder die Dinge selbst in den Griff bekommen – wohin steuern wir in unserer Zeit? Dass alles möglichst überall und jederzeit erlaubt sein sollte, wenn es gefällt, das ist eine sehr fragwürdige Tendenz mit der Missachtung gegebener Grenzen. Das tut uns Menschen und der ganzen Schöpfung nicht gut. Gottes Intervention der Liebe mit dem Geschehen am Kreuz von Golgatha ist der Schlüssel zur wirklichen Rückkehr ins Paradies, die wir uns alle ersehnen.
Obwohl der Mensch von Anfang an gelernt hatte, Mittel und Wege zum Überleben zu entwickeln, waren über Jahrtausende die Bedrohtheit des menschlichen Lebens so sehr tägliche Erfahrung, Krankheit und Tod so nahe und das Überleben bis zum nächsten Tag so ungewiss, dass die Hinwendung zu den Göttern und der Kampf gegen Dämonen zum selbstverständlichen Lebensvollzug gehörten. Im Mittelalter wurde diese Erfahrung vom christlichen Glauben her zur Einladung, sich im Vertrauen auf die Allmacht und das Erbarmen des Vaters im Himmel angewiesen zu wissen und sich mit seinen Nöten in bittendem und dankendem Gebet an ihn zu wenden. Das schenkte den Menschen Halt und Trost auch im Leiden. Seit Beginn der Neuzeit begann sich das zu ändern. Wissenschaft und Technik haben Lösungen versprochen und geliefert, die den Menschen dazu gebracht haben, vor allem auf die eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, sodass die Idee von einem allmächtigen Schöpfer zunächst in den Hintergrund des allgemeinen Bewusstseins geriet und schließlich ganz daraus verschwand. Wir können die Probleme, die wir noch haben, doch selber lösen. „Die Dinge in den Griff kriegen“, so lautet die Devise.
Über die bisherige Entwicklung hinaus sind inzwischen bereits radikalere Veränderungen im Sinne dieser Mentalität im Gange. Sie betreffen ganz elementare Bereiche menschlichen Lebens wie Geburt und Tod, Mann- und Frausein, Entstehung menschlichen Lebens und Beendigung desselben
Was bisher noch „der Natur“ vorbehalten war oder gar einem Rest von Schöpfungsglauben zugedacht blieb, droht jetzt vom Menschen in unbegrenzter Eigenregie übernommen zu werden.
Die Gesetzgebung in den westlichen Ländern bewegt sich bereits in diese Richtung. Der Geschlechtsbestimmung „männlich“ oder „weiblich“ ist schon „divers“ hinzugefügt worden. Mancherorts ist sie schon als frei wählbar erklärt worden. „Ehe“ ist nicht mehr nur der Bund zwischen einem Mann und einer Frau, sondern zwischen zwei Personen gleichen Geschlechts, bald vielleicht zwischen beliebig vielen Personen, die in einer sogenannten „Verantwortungsgemeinschaft“ eine gewisse Verbindlichkeit miteinander vereinbart haben. Und wem nicht möglich ist, auf traditionellem Weg zu Kindern zu kommen, dem kann eine Samenspende helfen, dass der „Kinderwunsch“ erfüllt wird, notfalls mit Hilfe einer Leihmutter. Noch ist nicht alles überall auf der Welt rechtlich erlaubt, aber irgendwo kann man eine Möglichkeit finden, erfüllt zu kriegen, was man sich wünscht. Dass hinter all diesen Entwicklungen im Einzelfall Menschen, auch Christen, mit ihren Fragen stehen, die leiden und um den Weg ringen, darf auf keinen Fall übersehen werden. Dennoch gilt es, den verhängnisvollen Trend in unserer Gesellschaft deutlich zu benennen. Vielleicht kann es dann gelingen, die beiden Straßengräben zu vermeiden: Eine rigorose Rechtsordnung, die der vorgegebenen Schöpfungsordnung lückenlos Geltung verschaffen will einerseits. Und eine mitleidvolle Allmachtsphantasie andererseits, die sich einbildet, durch großzügige Erlaubnisse alles Leiden und alle Begrenzungen überwinden zu können.
In letzter Zeit scheint mit der Entwicklung in der Biotechnologie über das hinaus, was derzeit möglich ist, schier alles möglich zu werden. Schon jetzt ist im Blick, Geschlecht und Aussehen, Begabungen und Körpereigenschaften, Immunität gegen bestimmte Krankheiten und andere gewünschte Eigenschaften des Nachwuchses im Voraus zu bestimmen. Warum sollte es eines Tages nicht möglich sein, das biologische Ende des menschlichen Lebens zu eliminieren? Schon jetzt kann man den „hirntoten“, d. h. sterbenden Menschen einfrieren, um damit die Möglichkeit zu haben, ihn aufzuwecken und zu reanimieren, wann es den Verfügungsberechtigten genehm ist.
Es gibt allerdings auch Erfahrungen, die diesen Trend in Frage stellen. Die Corona-Pandemie zum Beispiel verweigert sich bisher allen angestrengten Bemühungen der Menschheit und weckt Zweifel an der Allmacht der Wissenschaft. Noch besteht zwar überwiegend die Meinung, dass es mit Ausdauer, Disziplin und Intelligenz schließlich doch gelingen wird, sie zu überwinden. Aber zunehmend werden Stimmen laut, die darauf hinweisen, dass solche Plagen dauerhaft zum Leben der Menschen gehören werden.
So gibt es schon eine Gegenbewegung gegen den noch vorherrschenden Mainstream. Am sichtbarsten ist es in der Klima- und Umweltfrage. Noch will man auch hier mit Wissenschaft und Technik gegensteuern. Noch schreckt man vor der Erkenntnis zurück, dass die „Krise“ tiefer reicht und eine radikale Umkehr in unserer Lebensanschauung, unseren Lebenszielen und unseren Lebensgewohnheiten verlangt. Aber wenn wir schon nach sechs Monaten die Ressourcen eines ganzen Jahres verbraucht haben, dann wird doch unweigerlich klar, dass wir unseren Verbrauch radikal reduzieren müssen, wenn die Menschheit weiter existieren soll. So dämmert immer mehr Menschen, dass ein gesundes menschliches Leben nicht durch weiteren Fortschritt im bisherigen Sinn, sondern nur dadurch erlangt werden kann, dass wir als Menschen unsere Allmachtsphantasien aufgeben und wieder lernen, demütig und dankbar von dem zu leben, was uns als Menschen geschenkt und vorgegeben ist.
Ganz gewiss werden wir uns als Christen einreihen in die Schar derer, die für diese kollektive Umkehr werben und sich dafür einsetzen. Aber ist das unser primärer Auftrag? Hat Gott, als er Mensch geworden war, eine verbesserte Welt hinterlassen und uns vor allem aufgetragen, an ihrer Verbesserung zu basteln? Er hat viele geheilt; in den Evangelien heißt es sogar: „Und er heilte alle“, aber es waren doch nur die, die zu ihm kamen. Er hat Krankheit und Tod nicht aus der Welt geschafft. Er hat den Krieg nicht eliminiert. Und als er die hungrige Menge gespeist hatte, hat er sich zurückgezogen, „er allein“, weil er „erkannte, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen“ (Joh 6,15), damit er mit seinen Machtmitteln dem Volk eine heile Welt schaffe. Deshalb antwortete er so zurückhaltend auf das Messiasbekenntnis des Petrus und bevorzugte den Hoheitstitel „Menschensohn“ aus der Verheißung des Propheten Daniel (Dan 7,13) und verband ihn in seiner Leidensweissagung mit dem Knecht Jahwes, als der er gekommen ist, unsere Schuld auf sich zu nehmen (Jes 52-53).
Der Raum, den die Heilungen in den Evangelien einnehmen, und der Stellenwert, den sie darin haben, machen deutlich, dass Gott die Welt dennoch nicht einfach so lassen will, wie sie ist: Seit dem Sündenfall ist sie eine gestörte Welt, nicht mehr die, wie sie aus der Hand Gottes „sehr gut“ hervorgegangen war. So muss man diese „Machttaten“ Jesu (Mk 6,5), seine Heilungen und Dämonenaustreibungen als Verheißung deuten, dass Gott das Paradies für die Menschheit nicht aufgegeben hat. Aber das Wort „Paradies“ kommt im Evangelium nur einmal vor: Ausgerechnet vom Kreuz aus, an dem er hängt, verspricht es Jesus dem mit ihm gekreuzigten Schächer, nachdem ihm dieser seine Schuld eingestanden hatte. Denn das ist die größere Not, die wirklich tödliche Not der Menschen: Die Sünde, der Aufstand gegen den Schöpfer und seine Ordnung. Wenn dieser unser Herr und Schöpfer uns fallen lassen und seinen Schöpferimpuls zurückziehen würde, wäre es aus mit uns und wir würden im Nichts versinken.
Diese Intervention Gottes in unsere gestörte Welt hinein zu verkünden und zu bezeugen, das ist der primäre Auftrag, den Gott uns Christen anvertraut und aufgetragen hat. Das ist unser „Alleinstellungsmerkmal“ in dieser pluralen Welt,
ein Merkmal, das uns von anderen gerade nicht absondert, sondern uns in einer Tiefe mit ihnen verbindet, die unauslotbar ist; denn sie vermag uns sogar dann wieder miteinander zu versöhnen, wenn wir in den Abgrund des An-einander-schuldig-geworden-Seins gestürzt sind.
Autor
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Alex Lefrank – GCL (Gemeinschaft Christlichen Lebens)
Alex Lefrank, Jahrgang 1932, trat 1954 in den Jesuiten-Orden ein und wurde 1965 zum Priester geweiht. Er lebt derzeit als Mitglied der Jesuitenkommunität Mannheim in Bühl (Baden). Lefrank half entscheidend mit, dass die Exerzitien, die