Walter Goll

Vom umfassenden beten nach Gottes Herzen

quat1

Wir beten ununterbrochen für euch,
dass ihr mit der Erkenntnis
seines Willens erfüllt werdet,
in aller Weisheit und geistlichem Verstehen,
um einen Lebenswandel zu führen,
der dem Herrn entspricht und ihm wohlgefällt;
dass ihr Frucht bringt in allem Tun des Guten
und zunehmt in der Gotteserkenntnis;
dass ihr durch die Kraft seiner Herrlichkeit
fähig und stark werdet,
in jeder Lage gehorsam und geduldig zu sein.

Kol 1,9-11 (nach der Übersetzung von U.Wilckens)

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Gott gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, wie überschwänglich groß seine Kraft an uns (ist) … (Eph 1,18f).
Solange ein Mensch Kraft hat – Gesundheit an Leib und Seele, Herzenskraft oder Geistesstärke – solange lebt er wie selbstverständlich in seinen Räumen und mit seinen Zeiten. Fehlt aber die Kraft, weil einer krank, schwach oder erschöpft ist, wird Vieles im Leben auf einmal fraglich. Dann ist Gewohntes nicht mehr möglich und Vertrautes geht verloren. Doch dort, wo menschliche Möglichkeiten aufhören, ist Gott noch nicht am Ende. Im Gegenteil: Unsere Schwächen können Gottes Chancen sein, das Werk zu tun, das er mit uns und durch uns tun will. Deshalb bittet der Apostel für die ihm anvertraute Gemeinde: Gott gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, wie überschwänglich groß seine Kraft an uns (ist) … Hier ist von mehr die Rede als nur von natürlicher Kraft und menschlicher Vitaltität. Der Apostel meint nichts Geringeres als die große Gotteskraft, mit der Christus von den Toten auferweckt wurde und eingesetzt ist im Himmel (Eph 1,19). Diese Gotteskraft wird auch uns geschenkt, und wir sollen mit ihr nach dem Herzen Gottes wirken.

Walter Goll und Sr. Dorothea Vosgerau aus der Redaktion des Quatemberboten zeigen auf, wie umfassendes Gebet, das um diese Kräfte weiß und mit ihnen rechnet, im Sinne des Oekumenischen Christusdienstes möglich ist.

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Wir kennen die dringende Empfehlung des Apostels Paulus an Timotheus, seinen Sohn im Glauben: Nun rufe ich zuerst dazu auf, dass intensives Gebet, Bittgebete, Fürbitten und Danksagungen zu Gott gebracht werden, und zwar für alle Menschen, für Könige und alle, die Regierungsverantwortung haben, sodass wir unser Leben ungestört und im Frieden führen können, gottesfürchtig und ehrbar. Das ist gut und gefällt Gott, unserem Retter. Sein Wille ist es, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. (1Tim 2,1-4 nach der Übersetzung von R. Werner) Hier wird eine umfassende und sehr wirkmächtige Dimension des Gebetsdienstes angesprochen.

Hinzutreten zur Quelle

pray01Beten ist Mitwirken am Handeln Gottes in der Geschichte. Hilfreich ist es, die Quelle zu kennen, von der das Wirken Gottes ausgeht. Symbolisch ist dieser Ausgangsort mit dem Bild des Thrones dargestellt. Der Thron Gottes stellt eine für uns noch unsichtbare Wirklichkeit dar. Er ist Ausdruck der wirkungsvollen und kraftvollen, ja mächtigen und ständigen Gegenwart Gottes inmitten aller Zeiten und Geschehnisse. Zugleich ist der Gott aller Götter, der Herr aller Herren, der Allerhöchste und zugleich Barmherzige mehr als nur Schöpfer und Ursprung aller Dinge. Er ist auch der Vollender in Person und damit der Allbeweger. Er selber, sein liebendes und wahrhaftiges Herz ist diese Quelle.
Wenn wir betend vor Gott treten, treten wir in diese Realität des höchsten Gottes ein. An diesem heiligen Ort ist das geschlachtete Lamm zu sehen, dem allein Ehre, Ruhm und Anbetung gebührt. Damit ist die Mitte allen Geschehens, also der ganzen Geschichte repräsentiert. Das Zentrum des Heils, das unüberbietbare letzte und alle sonstigen Wirkungen übersteigende Reden Gottes ist das Opfergeschehen auf Golgatha. Es ist das Geheimnis des Kreuzestodes Gottes. Mit diesem zentralen Geschehen hat der Verkläger der Menschen jeglichen Rechtsanspruch verloren. So hat dieses Drama als herrliche Folge die Überwindung des Todes und damit das Auferstehungsleben Jesu und seine Erhöhung gebracht.

Diese unumstößliche Tatsache ist also die eigentliche Quelle göttlicher Kraft, der Kraft des Auferstehungslebens Jesu. Von da ausgehend wirkt der Heilige Geist als Stellvertreter Christi in der Welt und setzt sich das Handeln Gottes fort. Er tut der Welt die Augen auf, leitet die Jünger in alle Wahrheit und verherrlicht in allem Jesus. Von Jesus nimmt er letztlich alles, was dieser wiederum vom Vater hat (Joh 16,7-15). Eigentlich unvorstellbar ist es, dass wir daran beteiligt werden.

Im Hebräerbrief werden wir ermutigt, dieses Vorrecht im Glauben wahrzunehmen: Wir haben nun, liebe Schwestern und Brüder, durch das Blut von Jesus diese Zuversicht, dass wir ungehindert in die heilige Gegenwart Gottes eintreten können! Diese Möglichkeit hat er uns eröffnet als einen ganz neuen, lebendigen Weg. Er führt durch den Vorhang hindurch, der im Tempel das Heilige vom Allerheiligsten trennt. Und dieser zerrissene Vorhang ist ja nichts anderes als sein eigener Körper! Weil wir einen obersten Priester haben, der über das Haus Gottes gesetzt ist, so lasst uns wirklich hineingehen mit einem lauteren Herzen, in voller Gewissheit des Vertrauens auf Gott, und unsere Herzen besprengt und damit gereinigt von einem Gewissen, das uns anklagen könnte, und mit einem Körper, der beim Untertauchen gewaschen wurde mit reinem Wasser (Hebr 10,19-22 nach der Übersetzung von R. Werner)!

Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade (Hebr 4,16) lauten deshalb die aufmunternden Worte im Hebräerbrief. Ja, es ist uns etwas Atemberaubendes eröffnet und wir sind hineingenommen in eine wunderbare Aufgabe. In Christus, als Glieder des Leibes Christi haben wir nun Anteil am kraftvollen priesterlichen Dienst Jesu Christi vor dem Thron Gottes!

Eugen Edel schreibt dazu: „Von hier aus gehen … Wirkungen hin in das himmlische Reich im Himmel und auf Erden. … So will der Herr, dass wir unsere Gebetsliebe überall hinleiten. Kein Gebiet soll übersehen werden, denn der Leib Christi wird gewonnen aus Gliedern aller Völker. Deshalb hat uns der Herr den Auftrag gegeben: ‘Betet weltweit!’ d.h. oekumenisch.”

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(Eugen Edel, Das Symbol der Stiftshütte und die Kirche Jesu Christi, Oekumenischer Verlag Dr. R. F. Edel, 6. Aufl. 1971, S.47)
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Biblische Beter: Mose, Daniel, Paulus

Anhand biblischer Beispiele können wir uns kundig machen, wie solches Beten konkret aussehen kann. Drei biblische Personen können uns dazu eine Orientierung geben. In einer Gesinnung, die völlig von sich selbst absieht und ganz auf Gottes Absichten zielt, ringen sie in einer stellvertretenden Bußhaltung um das Volk Gottes. So beeinflussen sie den Lauf der Geschichte. Diese drei Personen sind Mose, Daniel und Paulus.

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a) Mose

In einzigartiger Weise war Mose herausgerufen und gewürdigt, in unmittelbarer Nähe Gottes sein zu können. Die Bundeslade mit den Gesetzestafeln und auf ihr der Gnadenthron mit zwei Cherubim an den beiden Enden, die ihre Flügel nach oben ausbreiteten, das war der bevorzugte Ort des Redens Gottes zu Mose: Dort will ich dir begegnen, und vom Gnadenthron aus, der auf der Lade mit dem Gesetz ist, zwischen den beiden Cherubim will ich mit dir alles reden, was ich dir gebieten will für die Israeliten (2Mos 25,22 – nach der Übersetzung von M.Luther) bekommt Mose gesagt.

Diese Erfahrung der Nähe Gottes, dass Gott zu ihm wie zu einem Freund geredet hat, diese äußerst intensive und existenzielle Nähe zu Gott entspricht wiederum der Größe und Bedeutung seines Einflusses und seiner Aufgabe als Führer dieses ganzen Volkes Gottes. Wir wissen aus der Betrachtung seines Lebensweges, dass es dazu einen langen Weg der Bereitung und Heiligung gebraucht hat. Aus diesem gutmeinenden Heißsporn ist er durch Zeiten der Wüste und des Zerbruchs zum demütigsten Menschen geworden. In dieser Berufung konnte er dann auch in großer Freiheit mit Gott um den Fortgang der Geschichte Gottes mit seinem Volk ringen, letztlich um die Ehre Gottes.

Gegen Ende seines Lebens, kurz vor dem Einzug in’s gelobte Land, erinnert Mose das Volk an den ganzen zurückgelegten Weg. Er mahnt zur Dankbarkeit und verpflichtet sie auf die guten Weisungen Gottes. Mose erinnert auch nochmals an die Untreue Israels, der die unverbrüchliche Treue Gottes gegenübersteht. Er erzählt von der so dramatischen Situation am Horeb, als das Volk sich erneut von Gott abgewandt hatte und den Tanz um’s goldene Kalb vollführte. Das war ja ausgerechnet zu dem Zeitpunkt geschehen, da der einzigartige Bundesschluss Gottes mit seinem Volk sein sollte. Es ist ein atemberaubender Einblick in das innerste Ringen von Mose mit dem allmächtigen und barmherzigen Gott. Angesichts dessen hatte Gott zu Mose gesagt:

Ich sehe, dass dies Volk ein halsstarriges Volk ist. Lass ab von mir, damit ich sie vertilge und ihren Namen austilge unter dem Himmel; aber aus dir will ich ein stärkeres und größeres Volk machen als dieses (5Mos 9,13+14; vgl. auch 2Mos 32-34).

Wir müssen uns vorstellen, was da drin steckt. Wieviel Mühen hat Mose mit diesem Volk gehabt. Welche Enttäuschungen hat er erlebt. Welche Last hatte er wegen ihres Ungehorsams und Starrsinns zu tragen. Wie oft ist es dennoch durch die Gnade Gottes weitergegangen – und wieder hat das Murren angefangen bis hin zur Bedrohung seines Lebens. Und jetzt, am Berg Horeb, war der absolute Höhepunkt des bisherigen Weges, jetzt war die Situation des Bundesschlusses herbeigekommen, verbunden mit vierzig Tagen und Nächten des Fastens auf dem Berg, ohne Brot und Wasser, in seiner großen Verantwortung für dieses Volk vor Gott. Und da hinein, inmitten dieses heiligen Geschehens, hat das Volk zum wiederholten Mal die Sache verdorben, aber dieses Mal total.

Alles schien nun vollkommen aus und umsonst gewesen zu sein. Selbst Gott schien nun berechtigterweise die Geduld ausgegangen zu sein, der schon so oft einen Neuanfang und das Weitergehen trotz allen Ungehorsams ermöglicht hatte. Das Bedrängen des Mose, der sich für sein Volk einsetzte, schien ihm geradezu lästig zu sein. Es macht sogar den Eindruck, als wollte Gott dem Mose – und damit sich selbst – mit einem einzigartigen Angebot die Chance zu einer großen Erleichterung und zu einem sehr verheißungsvollen totalen Neuanfang gewähren: Aus dir will ich ein stärkeres und größeres Volk machen als dieses… Angesichts der ganzen Vorgeschichte und der darin gemachten schmerzlichen und mühevollen Erfahrungen dieses ernstgemeinte Angebot Gottes zu bekommen – wer sollte da nicht zugreifen? Als Mose dann vom Berg herunterstieg und die Katastrophe mit eigenen Augen ansehen musste, wurde er sozusagen vom Zorn und Grimm Gottes überwältigt. Er konnte nur noch die Gesetzestafeln zerschlagen und das Kalb, die Sünde des Volkes, vernichten. Mit einem Mal standen Mose erneut die ganzen Verfehlungen des Volkes auf dem Wüstenweg vor Augen, auch Aarons Schuld an diesem letzten Geschehen. Angesichts dieses Unrechts und dem Wissen um den Zorn Gottes und seine berechtigte Absicht, das Volk zu vertilgen, geschah dann dies:

Ich aber fiel nieder und lag vor dem Herrn vierzig Tage und vierzig Nächte; denn der Herr sprach, er wolle euch vertilgen. Und ich bat den Herrn und sprach: Herr Herr, verdirb dein Volk und dein Erbe nicht, das du durch deine große Kraft erlöst und mit mächtiger Hand aus Ägypten geführt hast! Gedenk an deine Knechte Abraham, Isaak und Jakob! Sieh nicht an die Halsstarrigkeit und das gottlose Treiben und die Sünde dieses Volks, damit das Land, aus dem du uns geführt hast, nicht sage: Der Herr konnte sie nicht in das Land bringen, das er ihnen zugesagt hatte, und sie darum herausgeführt, weil er ihnen gram war, um sie zu töten in der Wüste. Denn sie sind dein Volk und dein Erbe, das du mit deiner großen Kraft und mit deinem ausgereckten Arm herausgeführt hast (5Mos 9,25-29). Aber der Herr erhörte mich auch diesmal (5Mos 9,19b), konnte Mose dem Volk dann erzählen. Nicht die von Gott angebotene Erleichterung und von daher so verständliche Lösung hat er angenommen. Mose war so sehr mit dem Volk verbunden und hat sich mit ihm identifiziert, dass er nicht davon abgelassen hat, für es einzutreten. Noch mehr jedoch hat er im Grund genommen sich um das Ansehen Gottes in aller Welt gekümmert. Er hat Gott vorgehalten, welchen eklatanten Imageschaden er erleiden würde mit diesem Angebot. Er hat an die Verheißungen, das Wort Gottes erinnert, das er einst den Vätern gegeben hatte. Würde dann nicht die Glaubwürdigkeit Gottes auf dem Spiel stehen? Würde dann, angesichts der großen Taten, die Gott mit diesem Volk schon getan hatte, er letztlich nicht als Schwächling vor den Ägyptern und anderen Völkern dastehen und als ein heimtückischer, grausamer Gott? Als priesterlicher Mensch hat er also neben der Identifizierung mit dem Volk sich mit Gottes ursprünglichen Absichten identifiziert. Er hat bedacht, wie sich dieses drohende Geschehen auf die Sicht der Völker und die Geschichte insgesamt auswirken würde.

b) Daniel

In ähnlicher Weise können wir bei Daniel diese Gebetshaltung sehen. Aus der Beschreibung seines Lebensweges wird deutlich, dass er ein geheiligtes Leben mit einer wunderbaren Treue Gott gegenüber geführt hat. Auch wenn es ihn viel gekostet hat, ist er bei dem geblieben, was vor Gott recht war angesichts großer Bedrohungen. Das hat Gott belohnt.
Im neunten Kapitel das Buches Daniel wird von einer entscheidenden Weichenstellung der Geschichte des Volkes Gottes berichtet:

Im ersten Jahr des Darius, des Sohnes des Ahasveros, aus dem Stamm der Meder, der über das Reich der Chaldäer König wurde, in diesem ersten Jahr seiner Herrschaft achtete ich, Daniel, in den Büchern auf die Zahl der Jahre, von denen der HERR geredet hatte zum Propheten Jeremia, dass nämlich Jerusalem siebzig Jahre wüst liegen sollte (Dan 9,1+2).

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Wir sehen hier, dass Daniel zwei Dinge im Blick hat und sie zusammensehen möchte. Zum einen ist es die geschichtliche Situation. Ein neuer Herrscher hat seine Regentschaft angetreten. Damit hat ein neuer Abschnitt, eine veränderte Situation begonnen. Zugleich ist dem Daniel vor Augen, was in der Schrift beim Propheten Jeremia geschrieben ist. Und er erkennt, dass es einen Zusammenhang mit dieser neuen politischen Situation und dieser Schriftstelle geben muss.
Das veranlasst ihn zu einem intensiven und leidenschaftlichen Fragen vor Gott. In diesem ergreifenden Gebet breitet Daniel die so betrübliche Situation des Volkes im Exil vor Gott aus. Er benennt ausführlich die verderblichen Wege des Volkes, die in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart von Gottlosigkeit und Abweichen von Gottes Wegen gekennzeichnet ist. Immer wieder erinnert er dabei an das Erbarmen Gottes und auch an das Recht, dem Volk als Konsequenz dieses niederschmetternde Schicksal im Exil zumuten zu müssen. Und dabei stellt er sich ohne Abstriche ganz auf die Seite des Volkes so, als ob er selbst ebenso diese Schuld auf sich geladen gehabt hätte. Er zeigt nicht mit dem frommen Zeigefinger auf die bösen Anderen, die das verschuldet haben. Nein, er stellt sich mit ihnen unter all die unsäglichen Verfehlungen, als habe er sie sich selber genauso zuschulden kommen lassen. Wir … müssen uns schämen, dass wir uns an dir versündigt haben. … uns trifft der Fluch, … weil wir an ihm (Mose) gesündigt haben. … wir haben gesündigt, wir sind gottlos gewesen … wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter trägt Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen … (Dan 9, 8.11.15.16).

Dieses leidenschaftliche Gebet, in dem Daniel neben dem Bekenntnis der Schuld immer wieder die Treue Gottes, seine Barmherzigkeit und Vergebung, seine Gerechtigkeit anspricht, mündet letztlich in die Bitte an Gott, um seiner selbst willen dieses Gebet zu erhören.

Lass leuchten dein Antlitz über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Herr! (Dan 9, 17b) Und am Schluss: Ach, Herr, höre! Ach, Herr, sei gnädig! Ach, Herr, merk auf! Tu es und säume nicht – um deinetwillen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk ist nach deinem Namen genannt (Dan 9, 19). Auch bei Daniel sehen wir diese doppelte Identifizierung. Er identifiziert sich einerseits mit all dem, was den Weg des Volkes ausgemacht hat, mit allen guten wie mit den sündhaften Ereignissen und Haltungen. Andererseits versucht er, die Perspektive Gottes einzunehmen, soweit das einem Menschen überhaupt möglich ist. Jedenfalls beruft er sich auf die von Gott gesprochenen Worte der Verheißung und Wegweisung. Dabei kommt beides zusammen, der Blick auf das Gotteswort und der Blick in das aktuelle Weltgeschehen. Die Absicht dabei ist, den entscheidenden Durchblick von Gott her geschenkt zu bekommen.

c) Paulus

Beim Apostel Paulus können wir Ähnliches feststellen. Im Römerbrief entfaltet er das atemberaubende Panorama der Heilsgeschichte Gottes in Christus mit ihrer Bedeutung für die ganze Schöpfung. Nach dem Loblied auf die unüberbietbare Liebe Gottes in Christus Jesus kommt er auf das Schicksal des Volkes Israel zu sprechen. Weitgehend hat es seinen Messias nicht erkannt, was ihn zutiefst schmerzt.

Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen (Rö 9,1-5).

Diese Aussagen sind zwar nicht als Gebet formuliert, aber das Beten des Paulus wird sich ja an dem orientieren, was ihm aufgegangen ist und von Herzen wichtig ist. Er bekennt sich zu seinen Blutsbrüdern, obwohl durch sein Damaskus-Erlebnis und die Hinwendung zu Christus für ihn eine ganz neue Sicht des Glaubens und seiner Existenz geworden ist. Vor allem aber identifiziert er sich mit dem Herzensanliegen Gottes. Dieses erste Bundesvolk, die große Liebe Gottes, möge doch dahin kommen, seinen Messias und König zu erkennen! Dann würde ihm das Geschenk des neuen Herzens zuteil werden und sie würden das sein und leben können, wozu sie eigentlich von Gott, ihrem Vater, geschaffen und erwählt sind. Das ist ihm dermaßen bedeutsam, dass er vollkommen von sich selbst absehen würde: Er würde den tiefsten Verlust seines Lebens hinnehmen, nämlich verflucht und von Christus getrennt zu sein.

d) In den Riss treten

Bei allen dreien ist also eine Identifikation nach zwei Seiten hin festzustellen. Diese Beter wissen sich sowohl ihren Volksgenossen in Schuld und Verheißung ganz zugehörig und vertreten andererseits zugleich Gottes Ehre und seinen Willen. Das bringt für sie eine ungeheure Spannung mit sich. Es ist etwas derart existenziell Tiefgreifendes und eigentlich Menschenunmögliches, dass es einen zerreißen müsste, wenn man es aus eigener Kraft vollbringen wollte. Es ist dieses In den Riss treten oder in die Bresche treten, von dem der Prophet Hesekiel (Hes 22,30) oder auch der Psalmist (Ps 106,23) redet, um die eigentlich verdiente Vernichtung und Zerstörung eines Landes oder Volkes zu verhindern. Wer sich dazu rufen lässt, wird einen Leidensweg geführt werden. Diese Brücke, die geschlagen wird, dieser spannungsvolle und die ganze Existenz betreffende Dienst gründet sich jeweils auf das Wort Gottes und die von daher erhellte Sicht auf die Geschichte. Sie nimmt auch die lang schon vorher geschehenen Ereignisse ernst und erkennt den Zusammenhang des Ganzen mit allen Verirrungen und Verwirrungen ebenso, wie mit allem Wunderbaren, das dazugehört. Als eigentlich ohnmächtige Beterinnen und Beter sich in diesen umfassenden und kraftvollen Dienst hineingeben zu können, ist eine tiefe Gnade, die Gott, der Vater Jesu Christi durch seinen heiligen Geist gerne schenken möchte.